Madonna
Unterschlupf für die Nacht finden musste.
An einer Hausecke war er stehen geblieben. Der Wind drang zwar nicht durch seinen dicken Mantel, aber seine Schuhe waren nur dünn, und die Kälte kroch ihm durch die Sohlen bis hinauf in die Waden. Sein Blick wanderte über die Fassaden der umliegenden Häuser. Er war im Spittlertorviertel gelandet. Rings um ihn befanden sich Wirtsstuben, Mietställe und die Wohnhäuser der ärmeren Bürger, die es sich nicht leisten konnten, eines der stattlichen Gebäude an den großen Plätzen oder gar den breiten Straßenkreuzungen zu kaufen.
Er tastete nach Spindlers Geldbeutel, den er sich im Laufe der vergangenen Stunden irgendwann in die Tasche gesteckt hatte. Jetzt wog er ihn in der Hand, dachte darüber nach, wie lange das Geld wohl reichen würde. Eine Frau entdeckte ihn, löste sich von der Hausecke, an der sie gestanden und offenbar auf jemanden gewartet hatte. Zielstrebig kam sie auf Donatus zu.
Er musterte sie, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, was sie vorhatte. Sie trug ein langes, tief ausgeschnittenes Kleid aus dunkelblauem Samt, das an den Seiten Schlitze hatte. Durch sie hindurch konnte Donatus einen Blick auf die Beine der Frau werfen. Mit einem warmen Lächeln und sorgsam darauf bedacht, ihm genügend weiße Haut zu zeigen, blieb sie vor ihm stehen.
»Na?«, sagte sie. Sie hatte eine tiefe Stimme, die schnurrte wie die einer Katze. »Bist du einsam? Suchst du ein bisschen wärmende Gesellschaft?« Sie starrte auf den Geldbeutel in Donatus’ Hand, und jetzt erst begriff er, worin das Angebot bestand, das sie ihm gerade machte.
Er spürte, wie seine Ohren flammend rot wurden.
Die Frau lachte. »Verlegen? Wie süß!« Sie streckte eine Hand nach ihm aus, aber er wich zurück. »Du musst dich nicht fürchten«, sagte sie. »Ich kann sehr zärtlich sein, wenn ich jemanden bediene, der noch unerfahren ist. Wie heißt du?«
Er. Unerfahren! Er war zu verwirrt, um die Antwort zu verweigern. »Donatus«, gab er zurück, und gleich darauf wurde ihm klar, dass sie dies als Aufforderung verstehen musste.
Sie kam noch ein wenig näher. Er konnte jetzt das Parfüm riechen, das sie aufgelegt hatte, einen schweren Duft von Blüten und reifem Obst. Überreifem Obst, schoss es Donatus durch den Kopf. Etwas lag unter diesem Geruch, etwas Unangenehmes, Dumpfes, so, als habe die Frau sich lange nicht richtig gewaschen.
Er schluckte schwer.
»Ich bin Mina«, stellte sie sich vor. »Komm. Ich habe ein warmes Zimmer …« Sie wollte ihn am Ellenbogen fassen, aber er wich erneut zurück.
»Nein!«
Erstaunt sah sie ihn an. Sie hatte ein schmales Gesicht, das ihn an ein Wiesel denken ließ, ihre Augen wirkten darin viel zu groß. Braun waren sie, mit kleinen, goldenen Einsprengseln.
»Nur das Zimmer.« Donatus räusperte sich. Mina verstand immer noch nicht. »Nur ein Zimmer«, wiederholte er und kam sich dabei vor wie ein Idiot. »Ich brauche keine … ich meine, ich suche ein Zimmer … zum Wohnen …«
Sie ließ den Blick an seiner Gestalt auf- und abwandern. Kurz schien sie zu glauben, er ziere sich nur, wolle den Preis drücken, aber dann begriff sie. Und trat einen Schritt zurück.
»Ach so.« Plötzlich klang ihre Stimme gar nicht mehr wie die einer Katze. »Geh zu der alten Doris, ganz am Ende dieser Gasse. Sie hat Zimmer zu vermieten.« Schwungvoll drehte sie sich um und stiefelte davon.
Donatus starrte ihr nach. Verwundert stellte er fest, dass er ihre Gegenwart bereits in dem Moment vermisste, in dem ihr blauer Rock um die nächste Hausecke verschwunden war.
Noch am selben Tag im Februar hatte er ein Zimmer bei der alten Doris bezogen, nur um dann festzustellen, dass niemand einen Bader wollte, der im Spittlertorviertel wohnte. Zuerst glaubte er, Konrad Rotgerber habe dafür gesorgt, dass niemand ihn einstellte. Als er nach Monaten der vergeblichen Arbeitssuche endlich begriff, dass der Spitalmeister das gar nicht nötig gehabt hatte, dass die Leute ihm, Donatus, alleinwegen seiner räumlichen Nähe zu Huren und Gesindel nicht trauten, war es längst zu spät. Das Geld, das er von Dr. Spindler erhalten hatte, war aufgebraucht, eine Anstellung – und sei es auch nur als einfacher Tagelöhner – in ebenso weiter Ferne wie zuvor. Doris warf ihn hinaus, als er die Miete nicht mehr bezahlen konnte, und er hatte sich gerade mit dem Gedanken vertraut gemacht, in Zukunft betteln gehen zu müssen, als er Mina wiedertraf.
»Beschissen siehste aus«, war das Erste,
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