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Madonna

Madonna

Titel: Madonna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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neulich um sie gekümmert, als sie mit Fieber daniedergelegen und Vinzent sich zwei Tage lang nicht hatte blicken lassen. Wenn es der Eierverkäuferin wirklich schlecht ging, dann musste Lisa sich um sie kümmern.
    Sie nickte missmutig. »Mach ich. Passt du so lange auf mein Fass auf?«
    Rotraud nickte.
    Lisa wusste, dass Gertrud ein kleines Häuschen im Gerberviertel bewohnte, und dorthin wandte sie sich jetzt. Der Geruch der Lohe und das Aroma der zum Trocknen aufgehängten Häute legten sich schwer auf Lisas Hals. Sie zog ein Tuch aus ihrer Schürzentasche und presste es vor Mund und Nase, aber es half nicht viel. Es kam ihr vor, als dringe der Gestank ihr durch jede Pore in den Körper ein.
    Ein Gerbergeselle kam ihr entgegen, seine Hände und Unterarme waren dunkel gefärbt und ebenso die schwere Lederschürze, die er trug. Er tippte sich freundlich grüßend gegen die Stirn, aber Lisa wandte den Blick von seiner abstoßenden Gestalt ab und machte, dass sie weiterkam. Sie erreichte die schmale Gasse, in der Gertrud wohnte. Hier gab es kaum Licht, so eng standen die Häuser beieinander. Jemand hatte offenbar vor kurzem erst einen Nachttopf aus dem Fenster entleert, denn in den Gestank der Gerbereien mischte sich jetzt auch noch der von Fäkalien. Wenn Gertrud ihre Hühner in diesem Dreck frei laufen ließ, dachte Lisa bei sich, dann war es kein Wunder, dass die Viecher vergiftete Eier legten.
    So flach wie möglich atmete sie durch den Mund, während sie versuchte, sich einen Weg durch all den Unrat in der Gasse zu bahnen. Sie war bereits zwei- oder dreimal bei Gertrud gewesen, darum fand sie das kleine Häuschen auf Anhieb. Es war das vorletzte in einer Sackgasse. Hier bewohnte Gertrud die obere Etage, und eine schmale, wackelige Holzstiege, die man nachträglich an das Haus angebracht hatte, führte nach oben zu ihrer Eingangstür. Lisa erklomm sie und klopfte, aber sie erhielt keine Antwort.
    »Willst du zu der Alten?«
    Eine freche Kinderstimme scholl zu ihr hoch. Sie wandte sich um und blickte über das Geländer hinweg auf einen vielleicht fünf oder sechs Jahre alten Jungen, der zu ihr hinaufgrinste.
    »Gertrud?« Lisa nickte. »Ja. Ich wollte nach ihr sehen.«
    Der Junge zuckte die Achseln. Er hatte keinen einzigen Schneidezahn im Mund, und zusammen mit dem dünnen Haar, das ihm wirr um den Schädel stand, und den eingefallenen Wangen sah er eher wie ein Greis aus denn wie ein Kind. Unwillkürlich fragte Lisa sich, wann er zum letzten Mal etwas gegessen hatte.
    »Hab sie heute noch nicht gesehen«, sagte der Junge. Er zeigte in einen düsteren Durchlass, aus dem das dumpfe Pock-Pock mehrerer Hühner drang. »Klingt für mich so, als hätte die heute noch keiner gefüttert.«
    Lisa stieg die wackelige Treppe wieder nach unten. Konnte man Hühnern tatsächlich anhören, ob sie hungrig waren oder nicht? Ihre Kühe, die meldeten sich lauthals, wenn sie meinten, dass es an der Zeit war für ihr Fressen und fürs Melken, aber Hühner? In LisasOhren klangen sie immer gleich. »Ich sehe mal nach ihnen«, sagte sie.
    Der Junge nickte gleichmütig. »Klar.« Dann setzte er sich auf einen Findling, der aus der Fassade des gegenüberliegenden Hauses ragte, und schlug lässig die Beine übereinander.
    Lisa betrat den Durchlass, der so schmal war, dass sie rechts und links gleichzeitig die Wände berühren konnte. Ein ungutes Gefühl hatte sie gepackt, als sie dem Jungen ins Gesicht geschaut hatte. Irgendetwas, dachte sie, war da in seinem Blick gewesen, das ihr seltsam vorkam. War es Angst? Die Sonne war vor ungefähr einer Stunde aufgegangen, doch sie stand noch tief, und so fiel ihr Licht nicht zwischen die engstehenden Häuser. Lisa machte einen Schritt in das Dämmerlicht hinein, und im nächsten Moment richteten sich ihr alle Nackenhaare auf, ohne dass sie zu sagen vermochte, warum. Ein Geruch lag in der Luft, der ihr Magenschmerzen bereitete, etwas Metallisches, das nicht von der Lohe der Gerber oder dem Fäkaliengestank auf der Gasse herrührte. Lisa schnüffelte. Irgendwo hatte sie so was schon mal gerochen. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie sich erinnerte, wo das gewesen war.
    Damals. Als sie Vinzents Bruder geholfen hatten, das Schwein zu schlachten … Plötzlich wusste sie es. Das, was sie hier roch, war Blut.
    Viel Blut.
    Wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen, machte sie noch einen weiteren Schritt vorwärts, so dass sie um die Biegung sehen konnte. Das Erste, was sie sah, war ein Mann in teurer

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