Madonna
versperrt.
Drinnen in der Kammer brach Tobias sein Gebet ab. Zwei Herzschläge lang war es sehr still, dann wimmerte der Junge vor Angst.
Katharina brachte ihr Gesicht ganz dicht an das Türblatt. »Tobias?«, rief sie leise.
Im ersten Moment geschah nichts. Dann vernahm sie ein Flüstern. »Katharina?«
»Ja. Ich habe dich schreien hören und wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
Er antwortete nicht. Stattdessen erklangen hastige Schritte in der Kammer. Dann wurde der Stuhl unter der Klinke fortgezogen, und die Tür schwang auf.
Zögernd trat Katharina ein.
Tobias wich zu seinem Bett zurück. Er wirkte bleich und fahrig, noch ängstlicher als am Vormittag, als Öllinger ihn gebracht hatte.
»Was ist denn?« Ganz sanft versuchte sie zu klingen, mitfühlend. »Hast du schlecht geträumt?«
Das flackernde Licht der Talglampe in ihrer Hand fiel in die Kammer, und in ihrem Schein wirkte der Junge wie ein gehetztes Tier.
»Habe ich dich geweckt?«, murmelte er und wischte mit dem Daumenballen rasch erst über das linke Auge, dann über das rechte, damit sie nicht sah, dass er geweint hatte. »Das wollte ich nicht.«
»Ist nicht schlimm«, beruhigte sie ihn. »Was ist los?« Sie trat näher.Das Licht ihrer Lampe erfasste sein Bett, die Truhe daneben, das Kruzifix an der gegenüberliegenden Seite des Raumes.
Der Heiland daran sah müde aus.
»Ein Traum«, murmelte Tobias. »Ich liege im Dunkeln und kann einfach nicht glauben, dass ich allein bin.« Er schauderte so heftig, dass Katharina bei dem Anblick ganz elend zumute wurde. »Ich habe Angst, dass er kommt und pfeift.« Er setzte sich aufs Bett und rutschte ganz nach hinten an die Wand.
Einige Augenblicke lang war es sehr still in der Kammer. Dann spitzte Tobias die Lippen. Eine kleine Melodie brachte er zum Vorschein, wenige Töne nur.
»Was hat es damit auf sich?«, flüsterte sie und trat ein Stück näher.
Tobias antwortete nicht. Stattdessen pfiff er die Melodie erneut. Seine Augen waren jetzt schreckgeweitet, und Katharina wusste, dass sein Verstand sich nicht hier bei ihr in der Kammer befand, sondern bei den Dingen, die er erlebt – durchlitten hatte. Dann, mitten in der Tonfolge, brach er plötzlich ab. Seine Hände zitterten, als er sie hob und sich über den kahlgeschorenen Schädel strich. »Wenn er so pfiff, dann hieß das, dass man kommen musste.« Ein Schluchzen steckte in seiner Kehle fest.
»Kommen? Wohin?« Wozu?, ergänzte sie in Gedanken, aber sie wusste es längst. Im Grunde hatte sie es schon vorhin in der Küche gewusst, als Donatus sie gebeten hatte, es ihn nicht erneut durchleben zu lassen.
Jetzt stand sie hier und hörte mit an, wie Tobias mit bebender Stimme sprach.
»Man muss mit ihm gehen. Und dann … dann … tut er einem weh.«
Katharina schloss die Augen und sah Donatus’ gequälten Gesichtsausdruck vor sich. Jemand in Heilig-Geist vergriff sich an den jungen Scholaren. War auch Donatus ein Opfer gewesen?
Sie öffnete die Augen wieder, rieb sich den Nasenrücken. Auf einmal hatte sie Kopfschmerzen. »Wer ist er, Tobias?«, fragte sie behutsam. Sie würde diesem Kerl das Handwerk legen!, das schwor sie sich.
Tobias blickte sie an. Schwieg. Rang nach Atem.
»Du siehst aus wie ein Engel«, flüsterte er.
Katharina wusste, dass er ihr ihre Frage nicht beantworten würde, und sie beschloss, ihn nicht weiter zu quälen.
»Das ist kein besonders angenehmer Vergleich für mich«, sagte sie sanft. Tobias wirkte verwirrt.
»Entschuldige!«, sagte er vorsorglich.
»Du musst dich nicht entschuldigen!« Sie setzte sich auf seine Bettkante und stellte das Licht auf die Truhe.
Er winselte wie ein kleiner Hund.
»Es ist gut!«, murmelte Katharina. »Hier tut dir niemand etwas. Du kannst ganz beruhigt schlafen. Er wird nicht hierherkommen.«
»Bist du sicher?« Tobias schluckte krampfhaft.
»Versuch, wieder einzuschlafen!«, riet sie. »Hier bei mir bist du in Sicherheit. Und wenn du glaubst, dass du stark genug bist, mir zu erzählen, wer er ist, dann musst du nur rufen.«
Er nickte. »Ich danke dir.«
Sie stand auf und nahm das Licht. Sie würde nicht darauf warten, dass er es tat. Sie würde zu Donatus gehen und mit ihm sprechen.
»Schlaf gut!«, sagte sie und ging zur Tür.
Draußen auf dem Flur blieb sie stehen und hörte mit an, wie Tobias den Stuhl wieder unter die Klinke schob. Traurig senkte sie den Kopf, und ein paar Haarsträhnen rutschten ihr ins Gesicht.
Donatus’ Kammer lag nicht in diesem
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