Madrapour - Merle, R: Madrapour
gar nicht merke, daß Robbie meine Frage nicht beantwortet hat. Wie aber hätte er denn Antwort geben sollen? Töricht von mir, eine Antwort zu erwarten, als wüßte ermehr als ich über den Sinn des Lebens. Indessen ruhen seine hellbraunen Augen mit freundlichem, ernsthaftem Ausdruck auf mir, er sagt nichts, er tut nichts, er verzichtet auf sein geziertes Gebaren (Schütteln der Locken, Beine ineinanderschlingen, spinnenhafte Armbewegungen), das die Mehrheit so zu irritieren scheint.
Dann wird sein Blick noch milder, als ob mich aus der Tiefe seiner Augen die Frau ansähe, die eingeschlossen in ihm lebt unter dieser männlichen Hülle, die sie von innen her nie ganz hat verwandeln können. Ein Wesen offenbar, das ob seiner gespaltenen Natur in der Gesellschaft viel hat leiden müssen, denn die Welt besteht nicht vorwiegend aus Heimchen, sondern aus Caramans’.
»Sie sind in großer Sorge, Sergius«, sagt er schließlich und beugt sich teilnahmsvoll zu mir. »Sie sollten sich entspannen, an anderes denken. Zum Beispiel«, fügt er mit rührender Großzügigkeit hinzu, »an Ihre kleine Nachbarin, wenn sie zurückkommt. Oder tröstlichen Gedanken nachhängen (er setzt »tröstlichen« in Anführung und läßt dem Wort ein kurzes Lachen folgen); ich zum Beispiel, seit ich begriffen habe, daß wir (er senkt die Stimme) Gefangene in diesem Flugzeug sind, spreche ein deutsches Sprichwort vor mich hin: wollen Sie es hören?
Schön ist’s vielleicht anderswo,
doch hier sind wir sowieso.
Sie werden bemerken, daß es wie alle volkstümlichen Sprichwörter eine stoische Maxime enthält. Und die Bündigkeit des Deutschen verleiht ihm viel Kraft. Wie würden Sie das ins Französische übersetzen, Sergius, ohne es zu sehr auszuwalzen? Ich habe es mir so gedacht:
Il y a peut-être un ailleurs où on serait bien,
Mais en attendant, c’est ici que nous sommes.«
»Nein, nein«, sage ich, sofort im Banne meines Berufs. »
Un ailleurs
ist viel zu modern. Das trifft nicht den richtigen Ton. Und Ihr
en attendant
ist ein Kommentar. Ich schlage Ihnen etwas viel Einfacheres vor:
Un endroit où nous serions bien existe peut-être,
Mais malgré tout c’est ici que nous sommes.«
»Sie ziehen
un endroit
gegenüber
un ailleurs
vor?« fragt Robbie zweifelnd.
»O ja, unbedingt«, antworte ich.
Ich schweige, überrascht, daß ich nach all den beunruhigenden Fragen noch mit so lebhaftem Interesse über ein so nebensächliches Übersetzungsproblem zu diskutieren vermochte. In diesem Moment fällt mein Blick auf Bouchoix. Ich beuge mich zu Robbie vor (nicht ohne Mühe, denn selbst die geringste Bewegung kostet mich zuviel Kraft) und flüstere ihm ins Ohr: »Glauben Sie, daß dieser Mann sterben wird?«
Robbie nickt und zieht dabei die Brauen hoch, als wunderte er sich über meine Frage. Im selben Moment – Zufall oder Gedankenübertragung – öffnet Bouchoix die Augen und starrt mich an. Er sitzt nicht, sondern liegt in dem zurückgeschobenen Sessel; die Decke, in die Pacaud ihn gewickelt hat, reicht ihm bis zum Hals; die skeletthaften Hände auf der Brust gefaltet, gleicht er in Haltung und Reglosigkeit einer steinernen Grabmalfigur. Wie seine Gesichtszüge sich verändert haben! Beim Betreten der Maschine am Abend zuvor ist mir dieser Mitreisende kaum aufgefallen, der wohl magerer als die anderen war, seinen Gesten und seiner Stimme zufolge aber nicht zwangsläufig ein Kranker sein mußte. Und jetzt ist sein Körper steif wie ein Leichnam, und in seiner Totenmaske leben nur die tiefschwarzen Augen, die mich mit unglaublicher Bosheit anstarren. Ich versuche, den Kopf abzuwenden, es gelingt mir nicht. Sein Blick läßt mich nicht los. Und ich lese darin den Haß, den er mir entgegenbringt, weil ich gewagt habe, Robbie leise zu fragen, ob dieser Mann sterben wird. Ich habe seine Antwort. Sie funkelt in seinen schwarzen Augen, die mir nicht nur einmal, sondern immerfort mit gräßlicher, aufdringlicher Beharrlichkeit sagen: Du auch.
Ich kann diesen Blick nicht ertragen. Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, ist Robbie nicht mehr neben mir. Er hat wohl angenommen, daß unser Gespräch mich zu sehr angestrengt hat, und ist auf seinen Platz zurückgekehrt, von der kräftigen Faust seiner Nachbarin sogleich doppelt vertäut; Madame Edmonde hat den Enterhaken über seinen zarten Arm geworfen, beugt sich über ihn wie eine Löwin über die Gazelle, die sie in Stücke reißen wird, und läßt sich
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