Madrapour - Merle, R: Madrapour
privaten Charakter trägt, ruft sie im Kreis zwei sehr unterschiedliche Reaktionen hervor, beide gleichermaßen heftig.
»Ich bitte Sie!« ruft die Murzec mit schmerzerfüllter Stimme aus und richtet ihre vorwurfsvollen Augen auf Robbie. »Sprechen Sie nicht von der ›Willkür‹ des BODENS! Was Sie Willkür nennen, ist ganz einfach ein Wille, den zu begreifen wir nicht imstande sind.«
Dieser Einwurf überrascht mich, denn er beweist, daß die Minderheit, zu der die Murzec doch ebenso gehört wie wir, in ihren Interpretationen gespalten ist. Aber mir bleibt keine Zeit, mich bei diesen Nuancen aufzuhalten. Caramans greift ganz offiziell ein.
»Meine Herren«, sagt er – er sieht Robbie nicht an, sondern wendet sich ausschließlich an mich –, »ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich die größten Vorbehalte habe gegenüber den phantastischen Hypothesen, die ich soeben hörte. Es mag sein, daß diese Chartermaschine weder der gleichen Route noch dem gleichen Zeitplan wie die Linienmaschine folgt, aber für mich liegt kein ernsthafter Grund zu der Annahme vor, daß sie nicht ans Ziel gelangen wird.«
Caramans wiederholt sich. Er hat das alles bereits gesagt, nur der kleine Satz über »Route und Zeitplan« ist ihm eben noch eingefallen, um ihn der Murzec entgegenzuhalten. Ein verspäteter und nicht gerade glücklicher Einfall, denn sofern sich die Geographie nicht ändert, stehen so viele Flugrouten von Paris nach Indien nicht zur Auswahl.
Caramans hat in einem strengen Ton gesprochen und findet im Kreis, auch bei Blavatski, herzlichere Zustimmung als bisher. Robbie bricht unvermittelt in Lachen aus, in sein schrilles, flötendes Lachen, das einem tatsächlich auf die Nerven gehen kann. Für mein Teil empfinde ich es fast als peinlich, aus nächster Nähe das Schauspiel der Grimassen, Zuckungen und Verrenkungen mit anzusehen, die sein Lachen begleiten. Noch größer ist meine Verlegenheit, als er mir mit dem Gesicht so nahe kommt, daß ich schon glaube, er will mich küssen. Er tut es nicht, Gott sei Dank, sondern flüstert mir spöttisch ins Ohr: »Der gute alte Mythos von Madrapour – wie sie sich daran klammern!«
Dieser Satz mißfällt mir, ich weiß nicht warum. Ich habe den Eindruck, daß er auch an meine eigene Überzeugung rührt, obwohl ich jetzt beinahe sicher bin, daß wir niemals in Madrapour landen werden.
Ich will das Gespräch auf weniger gefährliche Themen lenken und sage ganz leise, um nicht aufs neue die Feindseligkeit des Kreises herauszufordern:
»Aber was ist nach Ihrer Ansicht der Grund für unsere Anwesenheit hier? Was hat man mit uns vor? Sind wir die Versuchstiere für ein Experiment?«
»Ach, Monsieur Sergius!« sagt Robbie mitleidig. »Sie fallen wieder in die Science-fiction zurück!«
Mein Zustand macht mich ohne Zweifel reizbar, denn ich entgegne abwehrend: »Hören Sie, Robbie, lassen Sie diesen Ton. Meine These ist gar nicht so abwegig. Letzten Endes ist es nicht von der Hand zu weisen: wir stehen in einer bestimmten Verbindung zum BODEN! Er hört uns, beobachtet uns, lenkt uns.«
»Ja«, sagt Robbie äußerst lebhaft, als hätte er auf diese Bemerkung gewartet, um sie zu widerlegen. »Aber das bedeutet nicht, daß diese Beziehung menschlich wäre! Keinen Anthropomorphismus, Sergius! Der BODEN ist nicht zwangsläufig eine böswillige Kraft – oder eine gutwillige, wie unsere Freundin glaubt (er deutet mit dem Kopf zur Murzec) … Im übrigen hat uns schon der Inder vor solchen Interpretationen gewarnt.«
»Aber was sollen wir dann hier?« frage ich erregt.
Robbie sieht mich lange nachdenklich an und sagt mit seiner seltsam flötenden Stimme: »Mit so wenig Zeit hinter uns, wollen Sie sagen, und so wenig Zeit vor uns?«
Ich bin bestürzt über die Art, wie er meine Frage gedeutet hat, und gleichzeitig so von der Angst gelähmt, daß mein Mund plötzlich ganz trocken wird. Diese Frage habe ich gewiß nicht stellen wollen, und doch treibt mich irgendeine Kraft, wortlos zuzustimmen und zu nicken, als ob ich sagte: ja, Robbie, was sollen wir hier, mit so wenig Zeit hinter uns und so wenig vor uns? Aber wie kann ich plötzlich so sicher sein, daß die Augenblicke, die uns dem Ende näher bringen, so schnell verrinnen?
Robbie sieht mich mit einer Ironie an, in der viel Freundlichkeit mitschwingt, und sagt leise: »Diese Frage, Sergius, hätten Sie sich ebensogut auf der Erde stellen können.«
Ich bin so betroffen von der Richtigkeit dieser Bemerkung, daß ich zunächst
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