Madrapour - Merle, R: Madrapour
könnte glauben – aber genau das will sie mich glauben machen –, daß die Schauer, die ich ihr über den Rücken jage, nicht alle von Angst herrühren.
Mrs. Boyd ist übrigens ebenso gelassen wie ihre Gefährtin. Ich frage mich, ob diese Frauen, die in meiner Achtung so hoch standen, nicht alles in allem mehr Manieren als Herz besitzen.
Ich bilde mir ein – was offensichtlich falsch ist und mir oft Enttäuschungen einbrachte –, daß eine Frau, weil sie soviel Rundungen und ein sanftes Gesicht hat, gut und mütterlich sein müßte. Ist sie es nicht, sei es auch nur beim oberflächlichsten Kontakt, erkläre ich sie sofort zur Ketzerin, die ihrer weiblichen Rolle untreu wird, und bin gegen sie eingenommen. Das ist ein Irrtum. Ebenso falsch ist es wahrscheinlich, daß ich mich so leidenschaftlich in die Stewardess verliebt habe, weil sie freundlich zu mir ist und mir voll Sympathie zulächelt – so wie in diesem Augenblick, um mich zu trösten. Aber wie wundervoll ist dieses Lächeln! Wie schnell es mich versöhnt!
Ich sitze also wieder. Ich mache meine Ohren und Augen weit auf. In meiner Abwesenheit hat sich die Situation verändert, und eine neue Spannung, die nichts mit PRM oder Furnierholz zu tun hat, ist spürbar.
Zielscheibe des Kreises ist jetzt Madame Edmonde. Sie hat es aufgegeben, mit Augen und Mund halbprofessionelle Aufforderungen an die anwesenden Herren zu richten, und entfaltet ihren Charme inzwischen viel ehrlicher, jedoch allein zugunsten Michous, an deren linker Seite sie sitzt. Ich höre nicht, was sie sagt, denn sie spricht leise in vertraulicher und beinahe drängender Weise. Aber ihre Blicke, ihr Eifer, ihr Tonfall, ihre Haltung erinnern keinesfalls an eine ältere Schwester, welche die jüngere zu trösten versucht, sondern an einen Mann, der einer Frau diskret den Hof macht – in ihrem Fall mehr als diskret, hinterhältig. Denn Michou, die für bare Münze nimmt oder nehmen will, was sich da als reine Sympathie ausgibt, die aber gleichzeitig von der ansteckenden Kraft des unterschwelligen Begehrens verwirrt ist, erliegt der Verführung oder zumindest der Faszination, ohne sich dessen direkt bewußt zu sein.
Ich will Michous Naivität nicht überbewerten, ich halte es für kaum denkbar, daß sie überhaupt nicht merkt, worum es geht. Weil die ihr geltende Aufmerksamkeit sie besticht, zieht sie es vor, den Kopf in den Sand zu stecken. Ihre tatsächliche Unwissenheit betrifft einen anderen, in Wirklichkeit viel gefährlicheren Punkt: sie hat keine Ahnung, um wen es sich bei MadameEdmonde handelt und auf welchen Weg ihre Freundschaft sie bringen kann.
Das scheint um mich herum der allgemeine Eindruck zu sein, denn die Gespräche verstummen, und eine spannungsgeladene Stille breitet sich aus, was Madame Edmonde nicht im geringsten stört. Gerötet und erregt, aber mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung setzt sie ihre zweideutigen Tröstungen fort. Die wenigen Brocken, die an unser Ohr dringen, bieten, aus dem Zusammenhang gerissen, keine Handhabe zum Eingreifen; dabei möchten wir alle eingreifen, und am meisten Pacaud.
Puterrot sitzt er da, mit schweißglänzendem Schädel und hervorquellenden Augen; Zorn und Angst scheinen gleichzeitig von ihm Besitz ergriffen zu haben. Ihm zittern die Hände vor lauter Anstrengung, sich zu beherrschen, was hier wohl bedeutet: sich am Reden zu hindern. Es dürfte ihm nicht gelingen. Mir ist aufgefallen, daß dieser in geschäftlichen Dingen ziemlich unerbittliche Mann eine gewisse Großzügigkeit besitzt. Sie trat schon zutage, als er zugunsten von Chrestopoulos protestierte, ohne daß seine eigenen Interessen im Spiel waren.
Unser Schweigen, in dem sich so viele Zwänge und Spannungen zusammenballen, gewinnt plötzlich durch Pacauds inneren Kampf eine dramatischere Intensität. Pacaud wird zum Brennpunkt, in dem sich alle Blicke sammeln. Erwartung und Drängen liegen in der Luft. Beunruhigt über die Verführung Michous durch Madame Edmonde, hoffen wir alle inbrünstig auf sein Eingreifen. Seltsamerweise hält niemand von uns Michou für fähig, sich selbst zur Wehr zu setzen. Und Pacaud wird stillschweigend als ihr Verteidiger erkoren.
Ich glaube, Pacaud spürt unser stummes Drängen; das bestimmt sein Handeln. Die Adern an seinen Schläfen schwellen an, sein Gesicht ist ziegelrot – er wird unserem Drängen nachgeben. Und sofort kommt unser Egoismus zum Vorschein: in Erwartung eines Eklats, den wir als Schauspiel erleben werden, ohne
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