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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Stewardess beklommen. »Ich weiß nicht, ob ich es sagen soll.«
    Caramans zuckt die Brauen.
    »Warum?« fragt er mit einem Schwanken in der Stimme.
    Alle Blicke richten sich auf die Stewardess. Sie wirkt ruhig. Da ich aber neben ihr sitze, kann ich sehen, wie ihre Nasenflügel beben.
    »Wenn ich es sage, werden die … Reisenden möglicherweise sehr beunruhigt sein.« (Ich glaubte schon, sie würde »Passagiere« sagen, ein Wort, bei dem es mir jetzt kalt den Rücken herunterläuft.)
    Ein perlendes, flötendes Lachen wird laut: Mrs. Banister bringt sich bei uns in Erinnerung. Ich begreife nicht, wie dieses Lachen so geziert klingen kann. Vielleicht weil es seinen Weg durch diesen langen, präraffaelitischen Hals nimmt?
    »Mademoiselle, Sie müssen Ihre Rücksichtnahme nicht übertreiben«, sagt sie, mit eleganter Pose die ungeheure Distanz zwischen sich und der Stewardess hervorkehrend. »Wir brauchen weder eine Mutter noch einen Mentor, sondern bestenfalls eine Serviererin.«
    Ich freue mich über die Reaktion der Stewardess: kein Blick und kein Wort. Caramans tut so, als hätte er nicht zugehört. Eine der verschleierten Unverschämtheiten der Diplomaten.
    »Mademoiselle«, sagt er, »Sie haben zuviel oder zuwenig gesagt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, Sie müssen uns alles erklären.«
    »Gut«, sagt die Stewardess mit einem Seufzer. »Als die Assistentin mich durchsuchte, hat sie mir meine kleine Taschenlampe weggenommen.«
    »Die Taschenlampe, die der Inder benutzt hat, um die … Initiativen von Mr. Chrestopoulos zu beleuchten?«
    »Ja.«
    »Ist das alles?«
    Die Stewardess schweigt.
    »Ist das alles?« wiederholt Caramans.
    »Nein. Sie hat mir auch den Schlüssel weggenommen.«
    »Welchen Schlüssel?« brüllt Blavatski, noch bevor Caramans den Mund öffnen kann.
    »Den Schlüssel zu dem Wandschrank, wo ich die Pässe und das Bargeld eingeschlossen hatte …«
    »Himmelherrgott!« schreit Blavatski, während er seinen Gurt löst und mit erstaunlicher Beweglichkeit aufspringt. »Kommen Sie, Mademoiselle! Zeigen Sie mir, welcher das ist!«
    Er stürzt in die Pantry, die Stewardess folgt ihm. Zwei Sekunden später taucht er wieder auf und sagt mit düsterem Gesicht, in dem sich auch die Genugtuung widerspiegelt, einen entscheidenden Punkt gewonnen zu haben:
    »Der Wandschrank ist leer. Sie haben alles mitgenommen.«
     
    Die Bestürzung erreicht jetzt ihren Höhepunkt: Wutausbrüche, lautes Klagen. Außerdem herrscht ein großes Durcheinander, denn nachdem die Leuchttafeln erloschen sind und die Temperatur sich wieder normalisiert hat, sind die Reisenden vor Verzweiflung und Zorn so in Hitze geraten, daß alle zur gleichen Zeit ihre Mäntel ausziehen, als hätte einer den anderen angesteckt. Das Schimpfen hört dabei nicht auf. Die Erregung ist unglaublich, Flüche und Kommentare in verschiedenen Sprachen und hier und da sogar kindische Streitereien über den Platz für die Mäntel. Diese Reibungen, die in den folgenden Stunden noch zunehmen, sind offensichtlich die Folge der Müdigkeit, desfehlenden Schlafs, der extremen Temperaturschwankungen und der Schicksalsprüfungen, von denen die letzte zwar nicht die schlimmste ist, aber um so schmerzlicher empfunden wird, als sie auf all die anderen folgt.
    Ich fühle mich vom Verlust meines Passes, meines Bargeldes und meiner Schecks stärker berührt, als ich es vernünftigerweise hätte sein dürfen. Denn schließlich läßt sich ein Paß ersetzen, und viel Geld hatte ich nicht bei mir, zehn französische Hundertfrancsscheine. Wie also erklären, daß ich das Gefühl habe, meines Besitzes beraubt zu sein? Und wie vor allem meine Empfindung erklären – so betrüblich und traumatisch –, daß ich mit dem Paß meine Identität verloren hätte?
    Ich deute diese seelische Verfassung nicht. Ich registriere sie. Und schließlich ist sie gar nicht so abwegig, denn in dem Augenblick, da Sie nicht mehr beweisen können, wer Sie sind, werden Sie zu einer Nummer unter Millionen. Ein anonymer Zustand, der einen auf schwindelerregende Weise mit dem Tod konfrontiert, so als gliche man bereits jenen Toten auf den alten Friedhöfen, deren Namen auf den Grabsteinen verwittert sind.
    Während ich solchen Gedanken nachhänge, begeben sich die anderen in einem absurden Defilé zur Pantry, um sich, Blavatskis Beispiel folgend, mit eigenen Augen zu überzeugen, daß der Wandschrank wirklich leer ist und daß unsere Pässe und unser Geld nicht anderswo hingeraten sind. Am

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