Mädchen im Moor
anstößt und ruft: Sie träumt schon wieder. Ich kann wieder ich sein …
So fuhren sie dem alten Moorhof entgegen. Das erste, was Monika von ihm sah, war ein gewaltiges, niedergezogenes Dach, mit verwittertem, braungrauem Stroh bedeckt.
Fiedje Heckroth hielt seinen alten, klappernden Wagen an und streckte den Arm aus.
»Das ist er, der Hof«, sagte er und wischte sich über den Mund, als habe er zu nasse Lippen. Es war aber nur eine Bewegung der Verlegenheit; er mußte etwas sagen und wußte nicht, wie man es ausdrücken sollte.
Als er sich mit Dr. Schmidt in Verbindung gesetzt hatte wegen einer Hilfe im Haushalt, da hatte er eine andere Vorstellung von den Mädchen gehabt, die in der offenen Strafanstalt ›Wildmoor‹ ihre Verfehlungen abbüßten. Ab und zu hatte er sie gesehen im Moor, beim Torfstechen, beim Holzsammeln, beim Umgraben der zum Wildmoor gehörenden Felder … blaue Leinenkleider trugen sie mit langen Röcken, derben Schuhen und verblichenen Kopftüchern um die kurz geschnittenen Haare. Und ab und zu hörte er es aus der Nachbarschaft flüstern, welche ›Früchtchen‹ sich darunter befanden. »Abschaum, sag ich euch!« hatte die alte Barbara geflucht, die als Kräutersammlerin ein paarmal ganz in der Nähe der Mädchen nach Salbei gesucht hatte. »Huren sind es, allemal! Daß man so etwas herumlaufen läßt! Früher steckte man sie hinter Gitter wie wilde Tiere … oh, waren das noch Zeiten! Aber jetzt … man sieht ja, wo's hinführt. Ein Mord nach'n anderen … Es ist ja ein Luxus, Verbrecher zu sein –«
Nun hatte Fiedje einen anderen Eindruck gewonnen, als er selbst in Wildmoor war. Und das Mädchen, das man ihm mitgegeben hatte, das nun neben ihm saß und auf das große, niedergezogene Strohdach starrte, war alles andere als eine Hure oder eine Verbrecherin, wie sie die alte Barbara geschildert hatte. Die Hände im Schoß gefaltet, saß sie neben Fiedje mit großen, blauen Augen, Kinderaugen, in deren Winkeln die Tränen standen. Wenn man sie ansah, hatte man das Gefühl, man müsse sie in den Arm nehmen, hin und her wiegen und immer wieder sagen: Nicht traurig sein … nicht traurig sein … wir alle lieben dich doch …
Für Fiedje Heckroth war diese Situation nicht nur ungewohnt, sondern so etwas wie ein unlösbares Problem, das von ihm nun eine Lösung forderte. Er strich sich wieder mit dem Handrücken über den Mund und bemühte sich, an dem blonden Kopf Monikas vorbeizusehen, hinaus ins vereiste Moor.
»Bevor wir weiterfahren«, sagte er mit schwerer Zunge und langgedehnt, als seien die Worte aus Gummi, »muß ich Ihnen noch etwas sagen.«
»Bitte –«
Fiedje Heckroth räusperte sich. »Meine Frau … wissen Sie, wenn man immer nur auf dem Lande lebt, und wenn man so von allen Seiten hört … keiner weiß ja genaues, aber alle sprechen darüber … also … meine Frau war eigentlich dagegen, daß ich …« Er schwieg und kratzte sich intensiv am Haaransatz.
»Ich weiß«, sagte Monika Busse leise. »Wir sind für die anderen Verbrecher –«
»Das möchte ich nicht so hart sagen.« Heckroth suchte wieder nach Worten. Daß er nicht die fand, die er suchte, machte ihn wütend auf sich selbst. »Immerhin sind auch Sie nicht unschuldig in Wildmoor –«
»Nein. Ich bin wegen Diebstahl und Hehlerei hier.«
»Um Gottes willen – das dürfen Sie meiner Frau nie sagen!«
»Dann … dann ist es vielleicht besser, wenn wir wieder umkehren, ja?« Es klang kläglich, aber man hörte dennoch das Endgültige aus den Worten heraus. Fiedje schüttelte den Kopf.
»Nein! Nein! Ich … ich wollte Ihnen nur sagen, wie es bei mir zu Hause ist … damit Sie sich nicht wundern … Sie sollen das wissen, bevor Sie eintreten … Es werden die Nachbarn kommen, und die alte Barbara … es … es wird nicht leicht für Sie sein …«
»Das weiß ich.«
»Meine Frau ist eine liebe Frau –«
»Sicherlich.«
»Sie dürfen ihr nicht übelnehmen, wenn sie zuerst mißtrauisch ist …«
»Das ist ihr gutes Recht. Wenn eine verurteilte Diebin ins Haus kommt … ich würde mich auch dagegen wehren.«
Fiedje Heckroth atmete hörbar auf. »Es ist gut, daß Sie so vernünftig sind. Fahren wir weiter. Sie werden sehen: In ein paar Wochen ist alles anders. Da fühlen Sie sich bei uns wie zu Hause –«
Er ließ den Wagen wieder anspringen und rumpelte über den gefrorenen, löcherigen Weg zum Moorhof. Zwei struppige Hunde sprangen ihnen aus der Toreinfahrt kläffend entgegen, ein Mädchen von neun
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