Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten
Immerhin regte sich Jarvie darüber auf, daß Collie ihre Tasse zu voll geschenkt habe. Sie stellte die Tasse mit der vollgegossenen Untertasse auf einem kleinen Tisch hinter sich ab und ignorierte sie geflissentlich. Sie war im Begriff, zu ihrem Unterricht in die Sonntagsschule zu gehen und bereits dafür angezogen mit Handschuhen, Tasche und Hut. Die Handschuhe waren aus kräftigem, grünlichbraunem Wildleder. Jarvie glättete sie in ihrem Schoß, fuhr dann mit flatternden Fingern über die Stulpen und legte sie um, so daß die Gebrauchswarenmarke sichtbar wurde – zwei Halbmonde, die in die gleiche Richtung wiesen. Es war das Kennzeichen für Kleidung, die der Preiskontrolle unterlag, und das jedermann bei Kleidern, wo es innen auf einem Stoffstreifen aufgedruckt war, entfernte. Jarvie betrachtete die fest eingeprägte Marke in ihren Handschuhen mit schiefgelegtem Kopf, so als denke sie über ein Problem nach, das damit zusammenhing. Dann strich sie die Handschuhe wieder glatt und rückte mit einer eckigen Bewegung ihre Brille zurecht. Jane verspürte ein geradezu panikartiges Verlangen, zu heiraten. Als Nicholas hörte, daß Jarvie in einer Sonntagsschule unterrichtete, erkundigte er sich angelegentlich danach.
«Ich glaube, wir sollten religiöse Themen lieber beiseite lassen», meinte Jarvie, so als schlösse sie eine Diskussion ab, die schon längere Zeit im Gange war.
«Ich denke, wir haben sie längst beiseite gelassen», bemerkte Collie. «Welch herrlicher Tag für Richmond!»
Selina lagerte elegant in ihrem Sessel, unberührt von der Gefahr, sie könnte eine alte Jungfer werden. Jedenfalls würde sie keine von dieser Sorte werden. Jane rief sich den Beginn des religiösen Disputs in Erinnerung, der durch alle Etagen zu hören gewesen war, da er im hallenden Waschraum des zweiten Stocks ausgetragen wurde. Collie hatte zunächst einmal Jarvie vorgeworfen, sie habe es versäumt, den Ausguß zu säubern, nachdem sie dort ihr Geschirr abgewaschen hatte. Sie kochte sich heimlich immer irgendwelches Zeug auf der Gasflamme, wo eigentlich nur Teekessel zugelassen waren. Dann hatte sie aus Scham über diesen Ausbruch Jarvie mit noch größerer Lautstärke beschuldigt, sie schöbe ihr religiöse Hindernisse in den Weg, «wo sie doch wisse, daß sie in der Gnade zuzunehmen beginne». Jarvie hatte sich dann verächtlich über die Baptisten geäußert, die sich im Widerspruch zum wahren Geist des Evangeliums befänden. Diese kunstvoll sich steigernde religiöse Auseinandersetzung dauerte nun schon über zwei Wochen, aber die beiden Frauen taten ihr Bestes, sie vor den anderen zu verbergen.
«Hast du die Absicht, deinen Kaffee mit der Milch darin stehenzulassen?» wandte sich Collie an Jarvie.
In dieser Frage lag ein moralischer Tadel, denn Milch war rationiert. Jarvie drehte sich um, strich und klopfte auf ihren Handschuhen herum, zog sie glatt und atmete hörbar. Jane hatte Lust, sich die Kleider vom Leibe zu reißen, um nackt und laut schreiend auf die Straße zu laufen. Collie blickte mißbilligend auf Janes dickliche, bloße Knie.
Greggie, die wenig Geduld mit den beiden anderen älteren Mitgliedern zeigte, war inzwischen mit Felix recht gut vorangekommen. Sie wollte wissen, was ‹denn da oben nebenan eigentlich vor sich ginge›, womit sie das benachbarte Hotel meinte, in dessen oberster Etage sich der amerikanische Nachrichtendienst eingerichtet hatte, während die unteren Stockwerke merkwürdig leer waren, so als hätte man sie nach der Requirierung vergessen.
«Ach, da würden Sie staunen, Madame», meinte Felix.
Greggie wollte den beiden Männern noch den Garten zeigen, ehe sie nach Richmond aufbrachen. Der Umstand, daß Greggie eigentlich die ganze Gartenarbeit allein tat, schmälerte den übrigen Mädchen das Vergnügen daran. Nur die allerjüngsten und unbekümmertsten fühlten sich berechtigt, dort zu sitzen, obwohl Greggies harte Arbeit darin steckte. Nur die aller jüngsten und unbekümmertsten konnten auch genießerisch über den Rasen gehen. Ihr unverdorbener Sinn hinderte sie daran, sich Skrupeln hinzugeben oder allzuviel Rücksicht auf andere zu nehmen.
Nicholas hatte ein schönes, blondhaariges, rotwangiges Mädchen entdeckt, das ziemlich schnell im Stehen seinen Kaffee trank. Danach verließ es das Zimmer in anmutiger Eile.
«Das war Joanna Childe, die Rezitationsunterricht gibt», erklärte Jane.
Später im Garten hörten sie, während Greggie sie herumführte, Joannas Stimme. Greggie
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