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Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten

Titel: Maedchen mit begrenzten Moeglichkeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Spark
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Möglichkeiten zu erörtern, die sich daraus ergaben, daß sie beide Pfarrerstöchter waren.
    «Mein Vater ist sonntags immer scheußlicher Laune, deiner auch?»
    «Nein, meiner ist viel zu beschäftigt.»
    «Vater bearbeitet gerade das Gebetbuch. Ich muß sagen, ich stimme da ganz mit ihm überein. Es ist überholt.»
    «Ach, ich finde das Gebetbuch wundervoll», meinte Joanna. Sie kannte es nahezu auswendig, einschließlich der Psalmen – ja die Psalmen ganz besonders –, die ihr Vater häufig zur Morgen- und Abendandacht vor einer oft ganz leeren Kirche sprach. Früher, als sie noch im Pfarrhaus wohnte, hatte Joanna diese Gottesdienste täglich besucht und den Respons aus ihrer Kirchenbank gesprochen, wenn ihr Vater in seiner erhabenen Demut, den weißen Talar über dem schwarzen, vorne stand und etwa den Psalm für den 13. Tag sprach:
     
    Es stehe Gott auf, daß seine Feinde zerstreut werden …
     
    Worauf Joanna, ohne zu zögern, antwortete:
     … und die ihn hassen, vor ihm fliehen.
     
    Und dann fuhr der Vater fort:
    Vertreibe sie, wie der Rauch vertrieben wird …
     
    Und Joanna fiel rasch ein:
    … wie das Wachs zerschmilzt vom Feuer, so müssen umkommen die Gottlosen vor Gott.
     
    Und so waren die Psalmen weitergegangen, abends und morgens, Monat für Monat, vom 1. bis zum 31. Tag, in Krieg und Frieden. Und oft hatte der erste und dann auch der zweite Hilfsgeistliche den Gottesdienst übernommen und die ins Englische übertragenen Worte von Israels holdem Sänger, dem Anschein nach vor leeren Kirchenbänken, im Glauben aber vor der Gemeinde der himmlischen Heerscharen gesprochen.
    Joanna zündete den Gaskocher in ihrem Zimmer im May of Teds Club an und setzte den Wasserkessel auf. «Das Gebetbuch ist wundervoll», sagte sie zu Nancy Riddle. «1928 erschien eine neue Fassung, aber sie wurde vom Parlament verworfen. Da es nun einmal so gekommen ist, finde ich es gut so.»
    «Was hat das Gebetbuch mit dem Parlament zu tun?»
    «Es fällt groteskerweise unter seine Zuständigkeit.»
    «Ich glaube an Scheidung», meinte Nancy.
    «Was hat die nun wieder mit dem Gebetbuch zu tun?»
    «Na, es hängt mit der Church of England und der ganzen Diskussion darüber zusammen.»
    Joanna mischte sorgfältig etwas Milchpulver mit Leitungswasser und goß die Mischung in zwei mit Tee gefüllte Tassen. Sie reichte Nancy eine Tasse und bot ihr aus einer kleinen Zinndose Sacharintabletten an. Nancy nahm eine Tablette, ließ sie in die Tasse fallen und rührte um. Sie hatte seit kurzem ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, der davon sprach, seine Frau zu verlassen.
    «Mein Vater mußte sich einen neuen Mantel kaufen, er braucht ihn bei Beerdigungen über seinem Talar, er erkältet sich immer bei Beerdigungen. Das heißt, daß ich dieses Jahr keine Kleiderabschnitte übrigbehalte.»
    «Er trägt einen Mantel? Dann gehört er der höheren Geistlichkeit an. Mein Vater trägt nur einen Überzieher, er gehört natürlich nur zur mittleren bis unteren Geistlichkeit.»
     
     
    Während der ersten drei Wochen im Juli warb Nicholas um Selina, pflegte aber zur gleichen Zeit seine freundschaftlichen Beziehungen zu Jane und anderen Mädchen im May of Teck Club.
    Jedesmal, wenn er dort zu Besuch war, verdichteten sich die poetischen Eindrücke und die Geräusche, die schon in der Halle des Clubs auf ihn eindrangen – als seien sie von einem eigenen Willen beherrscht –, zu einer einzigen Vorstellung und ließen ihn an die Verse denken:
     
    All unsre Stärke sei und all
    Die Süßigkeit als wie ein Ball.
     
    ‹Und ich würde Joanna gern das Gedicht beibringen oder es ihr lieber noch demonstrieren›, dachte er und machte sich über das alles hastige Notizen auf die Rückseite seines Sabbat-Manuskripts.
    Jane berichtete ihm über alles, was im Club vorging.
    «Erzählen Sie mir noch mehr», bat er. Und mit ihrem klugen Einfühlungsvermögen erzählte sie ihm Dinge, die seiner Wunschvorstellung vom Club entsprachen. Tatsächlich war es auch kein ganz falscher Gedanke, daß dieses Mädchenheim die Miniaturform einer freien Gesellschaft war, einer Gemeinschaft, die durch die anmutigen Attribute einer gemeinsamen Armut zusammengehalten wurde. Er beobachtete, daß diese Armut die Lebendigkeit der Mitglieder keineswegs hemmte, sondern eher noch steigerte. Der Unterschied zwischen Armut und Bedürftigkeit ist ungeheuer, dachte er.
     
     
    «Hallo, Pauline?»
    «Ja?»
    «Hier ist Jane.»
    «Ja?»
    «Ich muß dir etwas erzählen.

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