Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Menschlichkeit, doch Dani hatte etwas sehr Bewegendes entdeckt. Sie war vor einer Nische stehen geblieben und starrte das halbe Dutzend Fotografien an, die mit dem Wort »Künstlerdebüt« betitelt waren und Terence’ Arbeiten zeigten.
Ihr traten Tränen in die Augen. Ein fünfzehnjähriger Junge durfte in der J.-M.-Sheridan-Stiftung ausstellen. Mitch machte sich bestimmt keine Vorstellung, was das für einen Jungen wie Terence bedeutete.
Doch, das tat er, korrigierte sich Dani.
»Dani.« Der Klang von Mitchs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie wirbelte herum. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Ich kann nicht fassen, was du für ihn getan hast«, sagte Dani mit tränenerstickter Stimme.
Mitch betrachtete die Fotos. »Er hat es verdient. Er ist gut. Und es hilft wiedergutzumachen, dass ein anderer Junge seine Arbeiten nicht zeigen konnte.« Er stieß den Atem aus und schien die traurige Erinnerung abschütteln zu wollen. »Außerdem ist diese Ausstellung eine Art Abschied für mich.«
»Was soll das heißen?«
Er streckte seine Hand aus, die Dani ergriff und ihm in Saal 2 folgte. Mitch ging zu einem Kasten und legte einige Schalter um, woraufhin ein paar Scheinwerfer zum Leben erwachten. »Sieh dir das an«, sagte er. »Sieh, was du mit mir angestellt hast.«
»Was soll ich schon mit d…« Dani verstummte und sah sich um. Mitchs Fotografien, die paarweise angeordnet waren, schienen sie von den Wänden anzustarren.
»O mein Gott«, stöhnte sie ungläubig und trat näher an eines der Fotos heran. Es war Chuck, der vor einer Gebäudewand des alten Bahndepots hockte. Sein Schatten wirkte auf dem zerborstenen Beton wie zersprungen. Seine verletzte Hand lugte unter dem Mantel hervor, grau und wie abgestorben.
Dani schluckte und sah sich die Aufnahme daneben an. Auch hier ein Mann mittleren Alters, allerdings in ein wallendes Gewand gehüllt. Statt auf Beton hockte er im Sand. Die Sonne warf einen bizarren, langgestreckten Schatten hinter den Einarmigen.
Dani ging zum nächsten Fotopaar. Ein Junge und ein Mädchen, schmutzig und barfuß, die vor einem halb beleuchteten Neonschild auf der Reading Road Würfel spielten. Neben ihnen auf dem Pflaster benutzte Einwegkanülen. Dani schauderte und sah auf das Gegenstück: ein Mädchen, das mit gekreuzten Beinen im Sand saß und eine zerfetzte Babypuppe in den Armen wiegte. An der Hütte hinter ihr lehnte ein Sturmgewehr.
Dani stockte der Atem. Jede Aufnahme aus dem Irak besaß ein Gegenstück aus dieser Gegend, aus Lancaster. Eine Mutter mit olivfarbener Haut und Schleier hockte Tausende von Meilen entfernt neben ihrem Baby vor den Resten ihrer zerstörten Lehmhütte. Und eine andere Mutter, weißhäutig und barhäuptig, hockte nur zehn Meilen von Danis Haus entfernt neben ihrem Baby im Treppenaufgang eines heruntergekommenen Hochhauses. Eine Familie in losen Gewändern und Sandalen rettete ihre Habseligkeiten aus dem zerschossenen Zuhause … eine Familie in abgetragenen Mänteln schob einen Einkaufswagen mit ihrer Habe vor sich her. Ein Dorf, eher eine Ansammlung von Brandruinen, hob sich gegen den Wüstensand ab … eine Straße mit verlassenen, heruntergekommenen Gebäuden vor dem Hintergrund einer Villengegend in der Ferne.
Und ein Junge mit seinem Hund. Einmal im Irak, einmal in Reading. Letzterem war Mitch Mittwochnacht begegnet.
Dani spürte einen Kloß im Hals. Das hier war nicht mehr allein die Ausstellung über das Lager in Ar Rutbah. Es war auch eine Ausstellung über Mitchs Heimat. Über so viele beliebige Gegenden.
Bevor sich Dani umwandte, fiel ihr Blick auf die Bildunterschrift des Jungen aus Reading. Gabriel.
Sie blinzelte und sah auf das vorherige Bildpaar. Nicki und Adam stand unter dem Bild von den amerikanischen Kindern. Sie sah, dass auch unter dem ersten Bild ein Schild befestigt war, musste jedoch nicht hingehen, um zu wissen, was darauf stand. Chuck.
»Sie tragen alle Namen«, murmelte sie.
»Nicht alle«, erwiderte Mitch leise. »Nur die hiesigen Menschen. Und diejenigen, um die ich mich künftig kümmern werde.«
Dani blickte ihn an, und ihr drohte das Herz überzugehen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Sag lieber, ›gern geschehen‹, denn du hast mir die Augen geöffnet.«
Ein Lächeln stieg aus der Tiefe ihrer Seele empor, als sie zu ihm trat, sich auf die Zehenspitzen stellte und ihn zärtlich küsste. »Gern geschehen.«
Mitch hätte Dani am liebsten ewig in den Armen
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