Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Wollte nie mehr das ewige Unrecht der Welt bekämpfen müssen.
Aber Russ war tot. Es gab niemanden, der die Geschichte des Jungen erzählen konnte. Oder die der anderen. Nur Mitch konnte das. Versprich mir … diese Ausstellung ist besonders wichtig.
Mitch schloss die Augen. Verdammt, Russell. Aber er wusste, dass er es tun musste.
Okay, Russ. Diese eine Ausstellung noch.
Er riss sich zusammen und ging noch einmal um das Bild herum. Zwang sich, es mit den Augen eines kritischen Betrachters zu sehen, statt mit dem Herzen eines Beteiligten.
Mit dem Passepartout war geschlampt worden. Mitch runzelte die Stirn. Russ war immer sehr penibel, was saubere Zuschnitte anging, und doch waren hier alle drei Schichten nachlässig bearbeitet worden. Er fragte sich, wie Russell oder der Kurator dies hatten übersehen können, nahm das Foto von der Staffelei und lehnte es gegen die Wand. Er würde das Passepartout selbst neu anfertigen, bevor die Ausst–
Ein Klingeln drang aus seiner Tasche. Er trat in den Gang hinaus, wo ihn die Menschen aus Ar Rutbah nicht anstarrten. »Ja?«, sprach er in sein Handy.
»Ich bin’s, Dani.«
Ihre Stimme war wie eine Liebkosung. Mitch verlagerte das Gewicht und lehnte sich gegen den Türrahmen. Er hatte in den letzten Jahren viele Begegnungen mit Frauen gehabt. Mit ein paar von ihnen war es sogar etwas Ernstes gewesen. Aber Dani war immer präsent. Manchmal, sehr selten, hatte er sich ebendies eingestanden und sich gefragt, ob es an ihr lag, dass keine der anderen Frauen für immer in seinem Leben blieb.
»Wo steckst du?«, fragte er.
»Bin auf dem Weg zu dir. Ich möchte mit dir reden.«
Sofort wurde ihm ein wenig wärmer, und sein Puls beschleunigte sich. »Worum geht’s?«
Sie zögerte. »Ich habe etwas für dich. Passt es dir gerade?«
Sein Herz pochte wie das eines verdammten Teenagers. »Stell deinen Wagen vorn auf der Straße ab. Ich komme runter und hole dich.«
Dani parkte ihren Chevy auf der gegenüberliegenden Straßenseite, verharrte kurz und wäre vermutlich wieder weggefahren, wenn nicht ein Schatten hinter dem Haus aufgetaucht wäre. Sie fuhr zusammen und griff nach ihrer Schusswaffe. Dann erkannte sie die Gestalt, die langen Schritte und das leichte Humpeln. Mitch.
»Mist«, murmelte sie. So viel zum Thema Meinungsänderung. Jetzt gab es keinen Weg zurück.
Sie überquerte die Straße und ging ihm auf dem Gehsteig entgegen. »Du hättest nicht extra runterkommen müssen«, sagte sie.
»Ich hatte es doch gesagt.«
Das war typisch für ihn. Gesagt, getan – Dani erinnerte sich gut, dass er so tickte. Ich will dich nicht hier haben, hatte sie behauptet. Es wäre Mitch niemals in den Sinn gekommen, dass das, was sie ihm an den Kopf warf, nicht mit dem übereinstimmte, wonach sie sich nachts gesehnt hatte. Für einen Mann wie ihn gab es kein Taktieren, sondern nur die nackte Wahrheit. Deshalb trafen seine Fotografien den Betrachter auch bis ins Mark.
»Komm mit«, sagte er und wies in Richtung Treppe des Wohnhauses.
»Nein.« In Dani schrillten die Alarmglocken. Wenn sie ihm folgte und mit ihm allein war, würde das bloß wieder Erinnerungen wachrufen, die sie nicht zulassen wollte. An sanfte, eifrige Hände und geschickte Lippen. »Ich kann nur eine Minute bleiben. Sie wollen gleich mit der –« Fast hätte sie gesagt: »Autopsie anfangen«, doch sie besann sich eines Besseren.
Er hatte es ohnehin bereits erraten, denn sein Blick war voller Kummer. Der Schein der Straßenlaternen warf Schatten auf sein Gesicht, und sein Adamsapfel hüpfte in der dunklen Mulde unter seinem Kinn. Der Duft nach Seife stieg Dani in die Nase, und sie stellte fest, dass er sich umgezogen hatte: Jeans und ein frisches Hemd, das ein wenig zerknittert vom Transport in der Reisetasche war. Sie hingegen trug noch immer dieselben Sachen wie am Morgen, als man Rosies Leiche gefunden hatte. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob sie wohl entsprechend roch, und verfluchte sich gleichzeitig, weil es ihr etwas ausmachte.
»Also, wie hast du dich entschieden?«, fragte er plötzlich.
»Wie bitte?«
»Was mich betrifft. Bin ich der Mistkerl, der deine geheimen Schwächen in seiner nächsten Ausstellung enthüllen wird? Oder bin ich bloß der Mann, der dich zufällig in einem schlechten Moment erwischt hat?«
»Ach so.« Dani stieg die Hitze in die Wangen. »Ich wollte dir das hier zurückgeben.« Sie holte die Speicherkarte aus ihrer Tasche und hielt sie ihm hin. Er nahm sie, und seine
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