Mädchen und der Leibarzt
Verdacht, dass Gregor sich vor allem ihretwegen entschlossen hatte zu bleiben. Immer häufiger suchte er ihre Nähe. Am Abend, wenn sie vom Unterricht kam, sah er sie stets freudestrahlend an. Jeden Tag war er ein bisschen
näher an sie herangerückt, und sie hatte sich immer weniger dagegen gewehrt. Wenn seine Nähe ihr doch wenigstens unangenehm wäre, damit sie ihm Einhalt gebieten könnte! Und nun hatte sie darüber auch noch ihre Pflicht vergessen.
Schuldbewusst machte sie sich auf den Weg zu Sebastians Haus. Der kalte Wind fuhr ihr unter den Rock und ließ sie frösteln. Es war niemand mehr unterwegs, vielleicht schlief der Stiftskanzler auch schon, aber Helena wollte sich keinesfalls wieder dem Zorn des Leibarztes aussetzen und es wenigstens versucht haben. Wenn sie nur endlich eine Erklärung für Sebastians eiternde Wunde finden würde! Bei der Fürstäbtissin hatte das Kräutersäcklein auch geholfen, und seit vergangenem Donnerstag behandelte sie Sebastian zusätzlich noch mit Thymian, der entzündungshemmend wirkte. Ohne Erfolg. Der Eiter war sogar leicht bräunlich geworden, was sie noch nie erlebt hatte. Aber die Medizin war die richtige, da hatte der Apotheker nichts falsch gemacht. Sie hatte an dem Fläschchen gerochen: Es war eindeutig und unverwechselbar Thymian gewesen.
Leise klopfte sie an Sebastians Türe. Er öffnete nicht. Nach einer Weile des Wartens musste sie sich eingestehen, dass sie zu spät kam und er bereits schlafen gegangen war.
Helena horchte auf. Rief da nicht jemand um Hilfe? Das war doch die Stimme des Stiftskanzlers!
Helena riss die Türe auf. »Sebastian, wo sind Sie?«
»Hier!«, rief er mit dünner Stimme.
Helena tastete sich durch die dunkle Stube am Studiertisch vorbei und fand Sebastian zusammengekauert am Küchenboden vor dem Herdfeuer.
»Helena, dich schickt der Himmel!« Er sah sie mit glasigen Augen an. »Der Herrgott hat meine Hilferufe erhört …«
»Sebastian, was ist mit Ihnen?«
»Mein Herz klopft schneller, als ich zählen kann, und meine Beine wollen mich nicht mehr tragen. Sobald ich versuche aufzustehen, wird mir schwarz vor Augen. Und ich friere so! Ich friere erbärmlich, Helena. Schlimmer als im strengsten Winter. Ich glaube, ich muss sterben.«
»Unsinn, Sebastian. Reden Sie keinen Unsinn. Sie haben zu viel Hitze im Geblüt. Aber davon muss man nicht gleich sterben.« Mit Bestürzung entdeckte Helena, dass sich der Eiter in Sebastians Kopfwunde schwarz verfärbt hatte. »Oh je, Ihre Verletzung wird ja immer schlimmer, statt besser. Vielleicht sollte ich doch wieder eine mit Weinessig getränkte Scharpie auflegen. Ich verstehe das nicht … Jedenfalls müssen Sie jetzt schnell vom Feuer weg! Sie brauchen Beinwickel mit kaltem Wasser.«
»Helena, willst du mich umbringen?« Kläglich schlang er die Arme um den Oberkörper. »Ich erfriere!«
»Das Feuer wird Sie umbringen, Sebastian! Ich helfe Ihnen zurück ins Bett.«
Helena begriff selbst nicht, woher sie die Ruhe nahm. Mit aller Kraft hob sie den Stiftskanzler auf. Er zitterte am ganzen Körper, konnte kaum gehen. Es gelang ihr, ihn ins Bett zu verfrachten und die unsaubere Wunde leidlich auszuwaschen, wobei er heftig stöhnte. Als sie endlich zwei feuchtkühle Tücher um seine Beine gewickelt hatte, atmete sie fast genauso schnell wie er. Erschöpft ließ sich Helena auf der Bettkante nieder.
Sebastian hatte die Wolldecke bis unters Kinn gezogen, und aus den sonst so gütigen Augen sprach der blanke
Schmerz. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, die in Rinnsalen zu den Schläfen liefen und sich in der dünnen Zopfperücke verfingen.
»Es wird bald besser, Sie werden sehen«, versuchte sie den Kranken zu beruhigen. »Das feuchte Laken ist jedenfalls gut gegen die Hitze im Geblüt.«
Sebastian klapperte zur Antwort mit den Zähnen, und seine Finger klammerten sich in die Wolldecke. »Ich … ich freue mich schon auf das Paradies. Dort ist es viel besser als auf Erden.«
»Sebastian, hören Sie auf damit! Sie werden nicht sterben. Sie haben keine roten Flecken, also sind es nicht die Blattern. Kein Durchfall und keinen sonstigen Ausschlag, also weder Ruhr noch Typhus. Es ist eine schlichte Influenza. Und die werden Sie überleben! Sie sind kräftig genug.«
»Du brauchst mir keine unnötigen Hoffnungen zu machen. Es ist lieb von dir, aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Er ist doch nur der Übergang vom irdischen Jammertal ins himmlische Paradies.«
»Bitte, Sebastian!«
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