Mädchen und der Leibarzt
Helena hielt seine Hand. »Verstehen Sie nicht? Sie werden nicht sterben! Die schlimme Hitze dauert höchstens zwei oder drei Tage. Und so lange müssen Sie durchhalten. Dann ist die Gefahr vorbei.«
»Der Tod kann uns jederzeit ereilen. Man darf sich nicht auf eine glückliche Sterbestunde verlassen. Ich habe daher ständig die irdische Rechnungsführung beachtet und bin nun stehenden Fußes bereit.«
Helena wusste bald nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollte. »Aber Sebastian, Ihr Leben ist noch nicht zu Ende!«
»Doch, doch. Ich habe nichts vom irdischen Leben verlangt
und habe trotzdem bereits mehr als genug geschenkt bekommen. Der Herrgott braucht mich nicht mehr auf Erden. Ich habe alles gelernt und getan, was wichtig war. Was will ich mehr vom Leben?«
»Sebastian, denken Sie doch an die Menschen im Stift: Sie werden gebraucht!«
»Wenn ich daran glauben würde, wäre ich ein armer Mensch. Das Stift wird ohnehin aufgelöst, oder hast du das schon vergessen? Damit sind alle meine Bemühungen hinfällig. Ich dachte zwar, dass mir der Herr noch die Zeit lässt, das Kirchensilber vor dem Untergang zu retten. Aber dazu hat er offensichtlich jemand anderen bestimmt.« Mit fiebrigen Augen sah er sie bedeutungsvoll an.
Leicht verwirrt runzelte Helena die Stirn.
Der Stiftskanzler verzog seine Lippen zu einem schwachen Lächeln. »Nun weiß ich, warum der Herr dich zu uns ins Stift geschickt hat. Du bist es, die es retten soll.«
Helena schüttelte den Kopf; die Hitze schien ihn schwer angegriffen zu haben. »Sebastian, seien Sie doch vernünftig. Wie sollte ich das Stift retten?«
»Nicht das Stift, Helena. Das Stiftssilber, die Kirchenschätze. Bitte versprich mir, das Erbe des Stifts zu bewahren. Es darf nicht an den König fallen! Er wird die Schätze einschmelzen und sich daraus Tafelsilber pressen lassen. Du musst die Sachen an einen sicheren Ort bringen, wenn ich es nicht mehr kann. Bitte versprich mir das.« Sebastian sah sie flehend an. Dieser Ausdruck … wie damals, als er nach dem Unfall im Wald um Hilfe gerufen hatte. Helena tupfte ihm die Schweißperlen von der Stirn und flößte ihm Flüssigkeit ein, um etwas Zeit zu gewinnen. So war sie vor einigen Wochen auch bei der Fürstäbtissin am Bett gesessen,
kurz bevor der Äskulap ins Zimmer gekommen war. Dann die Vereinbarung, der Handschlag, ihr Entschluss zu bleiben. Wäre sie nur damals mit einem Pferd, das man ihr zur Verfügung gestellt hätte, weitergeritten. Und jetzt? Wie sollte sie alleine das Kirchensilber in Sicherheit bringen? Das war ganz unmöglich. Mit einem schweren Gefühl im Magen sah sie Sebastian an. Es lag ihr auf der Zunge, seine Bitte abzuschlagen, doch sie brachte es nicht übers Herz. Stattdessen sagte sie sich, dass er ohnehin nicht sterben würde und nur im Moment ihre Zusicherung brauchte, damit er sich beruhigte.
»Ich verspreche Ihnen, das Kirchensilber in Sicherheit zu bringen. Machen Sie sich keine Sorgen mehr, und versuchen Sie jetzt ein wenig zu schlafen. Alles Weitere besprechen wir morgen, wenn Sie wieder besser bei Kräften sind.« Helena stand auf und ging zur Türe. »Ich werde dem Leibarzt ausrichten, dass Sie etwas Chinarinde gegen das hitzige Geblüt benötigen. Ich sehe gleich morgen früh wieder nach Ihnen. Und nun schlafen Sie wohl.«
»Ich lege alles in Gottes Hand. Und so der Herrgott will, wird alles gutgehen. Denn der Übergang vom Leben ins Paradies ist am gefahrvollsten und muss sicher vollzogen werden.«
Gregor wusste nicht, was er noch tun sollte. Am Morgen hatte Helena wie üblich das Sternenzimmer verlassen, und kaum eine Stunde später war sie wieder hereingestürmt und hatte sich schluchzend aufs Bett geworfen. Seither liefen die Tränen, und er konnte sie nicht beruhigen.
»Helena, bitte sag mir doch endlich, was mit dir los ist. Ist etwas mit Sebastian?«
»Nein, bei ihm war ich noch gar nicht!« Helena vergrub ihr Gesicht im Kissen. »Lass mich in Ruhe!«
»Sobald du mir gesagt hast, was los ist. Was bedrückt dich so?« Er streichelte über ihren bebenden Rücken. »Niemand weint ohne Grund. Schon gar nicht eine ganze Stunde lang.« Gregor drehte sie sanft zur Seite, damit sie wenigstens Luft bekam. Vorsichtig wischte er ihr die Tränen von den Wangen und sah ihr ins verweinte Gesicht. »Was ist denn los?«
Helena schluchzte auf. »Lea und ihre Mutter … Ich bin zum Friedhof und … Es gab so viele frische Gräber. Kaum mehr als ein Fußtritt Platz dazwischen! Ein Gemisch aus
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