Mädchen und der Leibarzt
so lange wartet, bis dein Gregor gefunden ist. Haben wir uns verstanden? Geh jetzt und beeil dich!«
»Gewiss.«
Lukas stand tatsächlich schon am Tor und unterhielt sich mit dem Wächter. Als er sie entdeckte, hob er den Arm zum Gruß. Helena wollte gerade auf den Chirurgen zulaufen, als die Stimme der Fürstäbtissin scharf hinter ihrem Rücken ertönte:
»Glaube nur ja nicht, dass du dich ungestraft davonstehlen kannst!«
Helena drehte sich voller Verwunderung um. Die Fürstäbtissin hielt eine Schriftrolle drohend in der erhobenen Hand.
»Es tut mir leid, Helena. Es tut mir wirklich sehr, sehr leid, aber ich werde dich bis zum Verhör verhaften lassen müssen, da tatsächlich Fluchtgefahr zu bestehen scheint.«
»Verhör?« Helenas Gedanken überschlugen sich.
»Du kannst natürlich auch deine Schuld an Sebastians Tod eingestehen, alsdann brauchen wir kein Verhör. Ich habe wirklich viel auf dich gegeben, Helena, und ich weiß, was ich dir zu verdanken habe. Aber Sebastians Tod kann nicht ungesühnt bleiben, und mir wurde zugetragen, dass du daran schuld bist.«
»Aber ich …«, brachte sie mühsam hervor. »Ich war …« Nein, Gregor sollte ihr kein Alibi verschaffen. Die Fürstäbtissin wäre imstande, ihn zu verhaften.
»Ich glaube nicht, dass du Sebastian mit Absicht umbringen wolltest, dennoch bist du für seinen Tod verantwortlich, und deshalb muss ich dich einsperren.«
Einsperren . Sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden, sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, und plötzlich verschwand die Fürstäbtissin hinter einem schwarzen Schleier.
Als Helena wieder zu sich kam, lag sie schlotternd am Stiftsbrunnen auf den eiskalten Steinen. Wasser rann ihr über das Gesicht. Sie blinzelte und erkannte zuerst den Rock der Fürstäbtissin und dann die Beinkleider des Äskulap. Bevor sie sich jedoch bemerkbar machen konnte, hatte ihr der Leibarzt bereits einen zweiten Kübel Wasser ins Gesicht geschüttet. Helena entfuhr ein Schrei, der sie vor einem weiteren Guss rettete. Stattdessen fasste der Leibarzt sie grob unter den Achseln und zog sie empor. Sie musste sich an ihm festklammern, ihre Beine wollten ihr noch nicht gehorchen.
»Wie gut, dass ich gerade vorbeigekommen bin, werte Fürstäbtissin«, lobte sich der Leibarzt selbst.
»Das Mädchen soll sich im Kerker von ihrer Ohnmacht erholen.«
»Wie bitte? Sie wollen die Göre unter Arrest stellen?«
Helena verfolgte das Schauspiel gebannt, ohne dessen Sinn zu begreifen. Welche Rolle spielte der Äskulap?
Die Fürstäbtissin nickte und ihr Mund wurde schmal. »Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich gebe dem Mädchen eine Woche Zeit, ein Geständnis abzulegen. Zur Sicherheit wird sie bis dahin eingesperrt.«
»Werte Fürstäbtissin …«, der Äskulap legte eine kunstvolle Pause ein. »In Anbetracht der Umstände halte ich es für besser, die Göre unter meine persönliche Aufsicht zu stellen. Ich werde Tag und Nacht mit Argusaugen über sie wachen. Werte Fürstäbtissin können sich ganz auf mich verlassen.« Der Äskulap setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Niemand außer mir hätte ein größeres Interesse daran, eine Flucht zu verhindern.«
Die Fürstäbtissin wiegte den Kopf. »Ich möchte niemanden einsperren, bevor die Schuld nicht erwiesen ist. In dubio pro reo . Sie darf nur nicht entkommen, Dottore. Kann ich mich auf Sie verlassen?« Die Fürstäbtissin fixierte ihn durch die Lorgnette.
»Wie immer, gnädigste Fürstäbtissin, wie immer.« Der Äskulap verbeugte sich dienstbeflissen.
»Sollten Sie mich enttäuschen, dürfte Ihnen klar sein, dass ich Sie für Sebastians Tod zur Verantwortung ziehen muss. Schließlich hatten Sie die Aufsicht über Helenas medizinische Ausbildung.«
»Gewisslich, gewisslich.« Der Äskulap verbeugte sich nochmals.
Die Fürstäbtissin raffte die Röcke und musterte Helena scharf. Daraufhin ließ sie scheinbar befriedigt die Brille sinken und ging Richtung Fürstinnenbau.
Helena fand nur langsam ihren sicheren Stand wieder.
»Nichts kann man dich machen lassen«, zischte ihr der Äskulap zu, als die Fürstäbtissin außer Hörweite war.
Helena bibberte und strich sich das Wasser aus den Haaren. »Aber Sie haben mich doch selbst bei der Fürstäbtissin angezeigt!«
»Ich? Dir hat doch ein Spatz ins Hirn geschissen! Glaubst du, ich durchkreuze meine eigenen Pläne? Zum letzten Mal … Ich will, dass dieser gottverdammte Versuch stattfindet! Wärest du etwas vorsichtiger gewesen, hätte
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