Mädchen und der Leibarzt
noch einmal im Kapitel um ihre Bemäntelung zu ersuchen, und ich möchte sogleich meine persönliche Frage anschließen, ob die Ressentiments des Kapitels womöglich durch die österreichische Herkunft der Gräfin zu erklären sind?«
Betretenes Schweigen machte sich ob der so direkt gestellten Frage breit.
Die Seniorin Gräfin Maria ergriff das Wort, noch ehe die Fürstäbtissin reagieren konnte. »Was sind das für Unterstellungen? Wir haben uns lediglich dazu entschlossen, die Bemäntelung angesichts der wirtschaftlichen Lage bis zur Rückkehr von Gräfin Sophie zu verschieben, um eine gemeinsame Zeremonie ausrichten zu können.«
»In der Hoffnung, dass die Gräfin Sophie noch ziemlich lange auf sich warten lässt oder womöglich gar nicht mehr zurückkehrt?«, forderte der Stiftskanzler die Seniorin heraus.
»Das wäre natürlich bedauerlich, aber unsere Entscheidung fiel wie gesagt aus rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten. «
»Um sich in diesem Zusammenhang die Pfründe für eine weitere Gräfin, insbesondere für eine Österreicherin, zu sparen?« Seine ineinander verschränkten Hände und die angespannte, nach vorne gebeugte Haltung zeugten davon, dass er sich die Sache der Gerechtigkeit wegen auf die Fahne geschrieben hatte und nicht eher zu ruhen gedachte, bis diese hergestellt sei.
»Das ist doch infam! Vollkommener Unsinn!«, erwehrte sich die Seniorin.
Sebastian lächelte. »Das sehe ich auch so. Zur Bemäntelung ist, soweit wir alle informiert sind, keine Verwandtschaft zu erwarten. Das Stift hat also keinerlei kostspielige Repräsentationspflichten; die Feierlichkeiten könnten sogar ganz entfallen. Das wäre doch in der Tat im wirtschaftlichen Sinne des Stifts oder irre ich mich? Oder möchte das Stift angesichts der knappen Güter vielleicht nur eine Pfründe vergeben?« Er suchte den Blick der Fürstäbtissin. »Und diese soll nicht an die Gräfin von Hohenstein, sondern an die Großnichte der Seniorin, Gräfin Sophie, fallen?«
Die Angesprochene kniff die Lippen zusammen.
»Werte Seniorin«, sagte Sebastian eindringlich, »die Gräfin von Hohenstein hat mehr als alle Voraussetzungen erfüllt. «
Gräfin Maria suchte ebenfalls den Blick der Fürstäbtissin, und diese griff nach der Lorgnette, um einen nach dem anderen anzusehen.
Nach einer kleinen Ewigkeit bedeutete die Fürstäbtissin ihrem Schreiber, nach der Feder zu greifen. »Es sei entschieden. Nach gutem Recht wird die Bemäntelung der Gräfin von Hohenstein heute zur Mittagszeit stattfinden. Anschließend wird der soeben entfallene Morgengottesdienst nachgeholt. Man möge die Gräfin von Hohenstein …«
Da klopfte es an der Tür. Die Fürstäbtissin wies ihren Diener an zu öffnen. »Das wird sie sein.«
Als von draußen eine tiefe Stimme ertönte, dachte Helena einen furchtbaren Moment lang an Friedemar, doch herein trat schnellen Schrittes der Äskulap. Sein Gesicht war
vor Anstrengung rot angelaufen, kleine Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn, und die blaue Weste unter dem Gehrock spannte gefährlich unter seinen tiefen Atemzügen.
»Was …«, schnaufte er, »was ist so wichtig, dass ich mein Morgenmahl unterbrechen musste?«
»Seien Sie gegrüßt, werter Äskulap. Mir geht es sehr gut, danke der Nachfrage. Die Sitzung hat bereits geendet. Meine Damen, Sie dürfen sich zurückziehen.«
»Das heißt, ich bin umsonst gekommen?« Fassungslos schaute er sich um. »Ich glaube, ich sollte wieder einmal den elenden Chirurgen rufen lassen. Ein Aderlass ist ein vorzügliches Mittel bei hysterischen Frauenzimmern.«
Helena hatte ihn die ganze Zeit über angestarrt. Sag etwas , hämmerte es in ihrem Kopf. Sag etwas, jetzt oder nie.
Der Leibarzt rückte sich den Kragen zurecht. »Sie wissen, meine Damen, meine Zeit ist kostbar. Darum werde ich mir erlauben, die allgemeine Sprechzeit heute um drei Stunden zu verkürzen. Habe die Ehre.« Er wollte im Anschluss an die Gräfinnen den Raum verlassen.
»Einen Moment, bitte!«, stieß Helena hervor, und im selben Augenblick spürte sie, wie ihr schier die Stimme zu versagen drohte.
»Sieh an, die kleine Hexe. Möchtest du auch einen Aderlass? «
»Nein, ich möchte mit Ihnen sprechen. Und zwar vor der Fürstäbtissin.«
Ein Stöhnen entwich dem Leibarzt, doch mit einem Blick auf die Fürstäbtissin sammelte er sich. »Was gibt es?«
»Gnädige Fürstäbtissin«, sagte Helena, »ich habe dem Leibarzt bereits davon berichtet. Ich habe womöglich ein Mittel gegen die Blattern
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