Mädchen und der Leibarzt
untertan.‹ Mit allem Vieh und allen Tieren, die sich auf der Erde regen. Untertan! Verstehst du das? Durch die Beimischung tierischer Säfte würden wir Menschen uns gleichsam degradieren!«
»Untertan?« Es war, als risse bei diesem Stichwort eine Fessel in ihr. Sie konnte die Befreiung regelrecht spüren –
und plötzlich fühlte sie sich stark, unheimlich mächtig und es war keine Spur mehr von Demut in ihr. Furchtlos warf sie dem Äskulap entgegen: »Wir dürfen uns die Erde nicht untertan machen! Es ist falsch, das so zu verstehen. Denn es heißt auch: ›Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaue und bewahre. ‹«
»Du maßt dich an, Gottes Wort nach deiner Willkür auszulegen? Ich habe es schon immer gesagt: Die größte Seuche auf Erden ist das denkende Weib! Das ist ein Benehmen wie in der Reformation! Du redest etwas von Kuhpocken daher, obwohl du nichts davon verstehst. Ganz so wie die Laien den Geistlichen mit wirren Bibelzitaten entgegentraten und althergebrachte kirchliche Riten einfach über den Haufen warfen! Alleine die Bibel verstehen zu wollen! Noch dazu als Weib! Hochmut ist die größte Sünde! Lesen und Verstehen ist nämlich ein Unterschied.«
»Einfach nur abzuwarten und nicht nach den Ursachen zu forschen ist auch ein Unterschied!«, feuerte sie nach.
»Forschen! Es gibt nichts Neues unter Gottes Sonne. Alles ist wohlgeordnet. Tatsache ist – und das sage ich dir in meiner hoch angesehenen Eigenschaft als Leibarzt: Das Blatterngift ist unbesiegbar. Gott hat uns die Seuche gegeben und Er wird sie uns beizeiten auch wieder nehmen. Wir würden uns tief versündigen, in sein Werk einzugreifen. Seine Strafe wäre ohne Barmherzigkeit. Kuhpockenlymphe als angebliches Wundermittel! Das ist doch schon so idiotisch, dass es nur dem Hirn einer Kranken entsprungen sein kann.«
»Äskulap!«, rief die Fürstäbtissin erbost. »Nun halten Sie aber an sich!«
»Niemals! Gnädigste, ich bitte Sie! Die Säfte eines Rindviehs im menschlichen Geblüt! Das ist doch eindeutig, wohin das führt. Kuhschwänze, Hörner, schwarz-weiße Haut! All das wird die Menschheit bekommen. Am Ende machen wir alle eine Minotaurisation durch und verwandeln uns in Kühe! Und von Generation zu Generation wird es schlimmer … Die Damen werden husten wie die Kälber und Haare am ganzen Leib bekommen. Welch grausame Vorstellung! Und das nur wegen dieses albernen Weibergeschwätzes!« Der Leibarzt rammte seinen Stock auf den Boden. »Nein, jedes weitere Wort ist zu viel. Es bleibt, wie es ist!«
Die Fürstäbtissin blieb sehr lange still. Dann sagte sie: »Womöglich haben Sie Recht, lieber Äskulap. Es ist wohl besser, wenn wir es nicht ausprobieren. Zudem gibt es keinen Grund, weshalb wir uns um Dinge kümmern sollten, die uns nicht unmittelbar betreffen. Das bringt nur Verdruss und Scherereien. Wir hier im Kapitel werden von den Blattern verschont bleiben, wir müssen nur die notwendigen Vorkehrungen treffen.«
Helenas Finger krallten sich am Sitz fest. Warum sagte sie so etwas? Am liebsten hätte sie geschrien, aber sie schluckte ihr Entsetzen über den Sinneswandel der Fürstäbtissin hinunter und presste die Lippen aufeinander.
Da kam plötzlich der Stiftskanzler durch die halbgeöffnete Türe zurück in den Raum, ging gemessenen Schrittes um den Tisch herum und bezog zwischen dem Leibarzt und Sophie Albertine Position.
»Bitte verzeihen Sie, gnädigste Fürstäbtissin, lieber Monsieur Dottore Tobler«, sagte Sebastian. »Ich habe als Kind eine milde Form der Blattern überlebt, aber die Seuche hat nahezu meine gesamte Familie ausgelöscht. Ich werde den
Eindruck nicht los, dass Sie beide gerade einen schrecklichen Fehler begehen, wenn sie schlichtweg die Augen verschließen und hoffen, dass es uns nicht treffen wird.«
Der Leibarzt baute sich vor Sebastian von Moltzer auf. »Fehler? Ich mache niemals Fehler! Sie sind wohl auch schon dem wahnhaften Irrsinn verfallen! Kein Wunder bei Ihrer stubenhockerischen Existenz über den Büchern. Sehen Sie doch nur, wie blass und ausgezehrt er ist! Das ist der Beginn der schwermütigen Schleichkrankheit, das prophezeie ich Ihnen!«
Sebastian rang sichtlich mit der Beherrschung. »Wie sollten Sie auch Fehler machen? Sie lassen ja schließlich alles unversucht!«
Der Leibarzt zupfte sich ein paar nicht vorhandene Fussel vom Ärmel. »Tag und Nacht zu lesen muss etwas Schmeichelhaftes für jemanden haben, dem es an wahrer
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