Mädchen und der Leibarzt
gefunden.«
Der Äskulap brach in schallendes Gelächter aus. »Unglaublich! «, prustete er, während er sich die vorgeblichen Tränen aus den Augen wischte. »Jetzt fängt sie hier auch noch mit dem Unsinn an!«
»Ruhe!«, wies ihn die Fürstäbtissin zurecht. »Helena, ist es wahr, was du sagst? Ein Mittel gegen die Blattern?«
»Ja. Vermutlich kann ich darum keine Blattern bekommen. «
»Bitte sprich.«
Helena hielt den Blick gesenkt, während sie ihre Beobachtungen vortrug. »Es könnten die Melkerknoten sein; womöglich verhindern sie die Blattern. Mir fehlen allerdings noch die Beweise. Zunächst müsste man die Flüssigkeit aus den ansteckenden Knötchen am Euter der Kuh entnehmen, und anderen Menschen diese Melkerknoten künstlich mitteilen, der noch nie die Blattern oder eine Inokulation hatte. Das gelingt aber nur bei grauen Kühen. Sodann setzt man den Menschen wie bei einer Inokulation den Blattern aus. Wenn ich Recht habe, kann die Person nicht erkranken. Und damit wäre der direkte Beweis geschaffen …«
Sie wagte nicht, den Blick zu heben, und starrte unablässig auf die schwarze Marmorplatte. Es blieb still.
Dann schaute Helena auf, direkt in das vor Freude strahlende Gesicht der Fürstäbtissin.
»Ich habe es gewusst!«, triumphierte die Fürstäbtissin. »Ich habe es gewusst! Mein Kutschunfall war kein Zufall. Der Himmel hat dich geschickt, mein Kind! Du wirst uns von den Blattern befreien!«
Der Leibarzt näherte sich langsam dem Kapiteltisch. Seine Augen waren schmal. »Man lässt sich von der Geschwätzigkeit
dieses Weibes blenden? Ihnen hätte ich mehr Verstand zugetraut, Gnädigste. Vergessen Sie das billige Geschwätz dieser Göre, gnädigste Fürstäbtissin. Es ist völlig bedeutungslos. Solange ein Weib nicht aufs Rathaus gelassen wird, lässt man es auch nicht zum Rat ans Krankenbette!«
Die Fürstäbtissin faltete die Hände. »Es liegt also daran, dass der Vorschlag von einer Frau und nicht von Ihnen stammt. Wollen Sie das damit sagen?«
»Unsinn! Auf solch eine wahnwitzige Theorie kann nur dieses Weibsbild kommen. Weiber sind in ihren Arbeiten einfach nicht genug ausgelastet. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, die Menschheit von den Blattern befreien zu wollen!«
»Das glaube ich Ihnen gern.«
»So denken Sie doch nach«, bekräftigte er. »Welch ein Wahnsinn, tierische und menschliche Säfte mischen zu wollen! Abscheulich und gottlos ist das!«
Helena versuchte sich selbst im Stillen zur Vernunft zu bringen. Es war nicht gut, sich gegen einen Mann aufzulehnen, erst recht nicht gegen den Leibarzt, hielt sie sich selbst vor. Sie presste die Lippen aufeinander, aber die Wut ließ sie nicht los. So fuhr sie den Äskulap an: »Wie gottlos ist es denn, den Menschen nicht zu helfen? Die Blattern tummeln sich keine drei Schritte von der Stiftsmauer entfernt und Sie unternehmen nichts dagegen! Wollen Sie dastehen und zusehen, wie die Menschen sterben?«
»Es ist nicht mein Schicksal.« Der Leibarzt schaute sich angelegentlich im Raum um, als wolle er fragen, weshalb er überhaupt hier war.
»Wir könnten es zumindest versuchen«, dachte die Fürstäbtissin laut nach. »Wenn die Person mit den Melkerknoten
keine Blattern bekommt, hätten wir ein Mittel gegen die Seuche.«
»Ja, natürlich, eine gute Idee! Wir machen es, wie der Bauer beim Pilze essen: Er isst sie und bleibt entweder gesund oder er stirbt – dann waren es eben Giftpilze.« Polternd ging der Leibarzt im Raum hin und her.
»Warum lassen wir es nicht auf einen Versuch ankommen? «, hakte Helena nach, gestärkt vom Zuspruch der Fürstäbtissin. »Wenn die Melkerknoten nicht schützen, so ist der Blatterntest nichts anderes als eine herkömmliche Inokulation. Und die war schon immer riskant. Was kann schon passieren?«
Der Leibarzt schaute fassungslos drein und hielt sich an seiner Stuhllehne fest. »Ich glaube, mein Holzfuß kriegt ein Zweiglein! Was schon passieren kann? Das fragst du noch?« Seine Stimme überschlug sich. »Warum hat der Herrgott wohl mit Mensch und Tier zweierlei Lebewesen erschaffen? Glaubst du, er hat sich nichts dabei gedacht?«
»Doch. Und gerade deshalb ähneln sich vielleicht auch die Krankheiten von Mensch und Tier.« Woher nahm sie nur diesen unheimlichen Mut, dem Äskulap Paroli zu bieten? Friedemar gegenüber hätte sie niemals solche Widerworte verloren.
»Weiberfantasien! Ach, was sage ich, Hexenwahn ist das! Hast du jemals Gottes Wort gelesen? ›Macht euch die Erde
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