Mädchen und der Leibarzt
Geistesgröße fehlt. Was glauben Sie wohl, wo das alles noch hinführt, wenn unsere Nachkommen sich wieder vermehren und nichts davon abgeschlachtet wird? Sie sollten doch wissen, dass es besser ist, wenn unser Herrgott redlich mit den Müttern im Wochenbett teilt. So ist es auch mit den Blattern. Sie sind eine gar feine Erfindung, um auf den Höfen ordentlich aufzuräumen. Soll ich etwa diesen weltverbessernden, gotteslästerlichen Weiberfantasien nachgeben? Es ist schon genug, dass ich all meine Kraft aufwende, um diese Göre bestmöglich auszubilden, obwohl das Gemüt der Weiber viel zu schwach ist. Anstatt dem Patienten zu helfen, legen sie sich lieber gleich daneben …«
»So lassen Sie doch etwas Geduld walten, und halten Sie an sich!« Die Fürstäbtissin sah den Leibarzt eindringlich an.
»Alles nur Ausreden! Das Weib am Krankenbette ist gleich einem Fluch für den Patienten. Es kann die anspruchsvolle Arbeit nicht mit den Gesetzen der Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit in Einklang bringen.«
Jetzt hielt es Helena nicht mehr aus. Leise, aber bestimmt sagte sie: »Das ist es. Es droht die Gefahr, dass eine Patientin dem Doktor aus Scham ihre Krankheit nicht nennt. Da braucht man dringend kundige Frauen. Man vertraut den Hebammen die neuen Erdenbürger an, aber nicht die Behandlung eines Seitenstechens. Warum?«
»Das kann ich dir sagen: Durch die Aufhebung der Scham wird das Weib zum Halbmanne, zum geistigen Zwitter, zum unausstehlichen Mittelding. Das Weib vermag ihren Gatten nicht mehr glücklich zu machen, weil sie eher die Aphorismen des Hippokrates zu übersetzen vermag, als dass sie ein Kochbuch verstünde oder die Kinder erziehen könnte.«
»Äskulap, ich glaube, es genügt«, fuhr ihm die Fürstäbtissin über den Mund. »Wir haben verstanden. Die gelehrten Geschlechterdebatten, ob Weiber auch Menschen sind, haben in diesem Hause nichts zu suchen. Ich werde mich um einen anderen Lehrmeister für Helena bemühen.«
»Gnädigste Fürstäbtissin«, der Leibarzt lächelte süßlich. »Das ist doch nicht notwendig! Sie haben mich vollkommen missverstanden. Die Ausbildung verlangt mir alles ab. Das wollte ich damit doch nur zum Ausdruck bringen. Ich opfere mich für das Weib auf, so sehr ich nur kann. Ganz nach dem Wunsch der gnädigen Fürstin. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn mir wegen der Blattern die Gäule durchgegangen sind …«
»Wenn das so ist, werter Äskulap, dann haben wir also hinreichend darüber gesprochen, und es soll nun keinen
weiteren Disput mehr geben. Helena wird lernen, ihre hitzigen Ideen im Zaum zu halten. Sie ist eben noch sehr jung und irritabel. Der Unterricht wird auf heute Abend verschoben, bis dahin werden sich die Gemüter wieder beruhigt haben.«
»Gewiss, werte Fürstäbtissin.« Der Leibarzt deutete eine Verbeugung an und machte ein Gesicht wie der treue Borginino.
»Helena wird einstweilen der Gräfin von Hohenstein bei den Vorbereitungen zur Bemäntelung dienlich sein. Helena, bitte sei so nett und begib dich auf das Zimmer der Gräfin. Die Zeremonie wird in zwei Stunden stattfinden.«
KAPITEL 10
E s hatte zu regnen begonnen, und tiefe Wolken zogen über das Stift. Der Wind peitschte die Tropfen gegen die Fenster, als Helena die Kapitelversammlung verließ und durch den Übergang im ersten Stock den Damenbau betrat. Hier war es noch kühler als im Fürstinnenbau. Je näher sie den Räumen der Gräfin kam, desto weicher wurden ihr die Knie. Im Gehen band sie sich die Schürze neu um und versuchte vergeblich, einige Falten aus dem Rock zu streichen. Sie griff sich ins Haar und prüfte, ob der Knoten noch ordentlich im Nacken saß. Ihre Finger zitterten.
An der Türe der Gräfin angekommen, straffte Helena ihre Haltung und klopfte an. Schnell schaute sie nach, ob ihre Fingernägel sauber waren. Sie horchte angestrengt, doch es drang kein Laut aus dem Zimmer. Ob sie sich noch einmal bemerkbar machen sollte? Sie klopfte erneut, diesmal mit Nachdruck, und der Schmerz fuhr ihr in die Knöchelchen. Nach einem Moment des Wartens, gerade als sie sich achselzuckend abwenden wollte, hörte sie ein zartes »Ja, bitte?«.
Helena öffnete zögernd die Türe.
Gräfin Aurelia saß kreidebleich auf dem Bett und hielt ein blaues Kissen im Arm. Vor ihr lagen zwei Stricknadeln und etwas weiter daneben ein Wollknäuel, als sei sie eben im Begriff gewesen, eine Handarbeit aufzunehmen. »Nimm
das Essen wieder mit, ich will nichts«, sagte sie ohne aufzublicken.
Helena knickste
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