Mädchen und der Leibarzt
möchte nicht, dass du gehst. Bitte, bleib hier.«
Es wurde still zwischen ihnen. Sie sahen sich nur an und hielten mit ihren Blicken Zwiesprache. Vorsichtig und unsicher.
»Und warum?«, fragte Gregor schließlich.
»Weil ich nicht möchte, dass dir etwas geschieht!«
»Ach, Helena, das ist doch Unsinn.« Er lächelte und streichelte ihr in beruhigender Geste über die Schulter. Die Berührung floss ihr unweigerlich bis in die Fingerspitzen.
»Gregor, wenn du Glück hast, wird die mildeste Strafe das Gefängnis sein. Willst du das? Willst du das wirklich?«
»Ach, sie werden mich schon nicht aufgreifen. Ich werde mich gut verstecken und nur nachts weitergehen.«
»Und was ist, wenn du krank wirst? Hast du das schon vergessen? Wer soll dir dann helfen?«
»Wäre es so schlimm, wenn ich sterbe?«
Sie senkte den Kopf und schwieg. Lass ihn gehen, es ist besser so.
»Helena, meinst du wirklich, ich soll bleiben?« Er ließ den Leinenbeutel von der Schulter gleiten.
»Ich denke … du solltest um Aurelia kämpfen. Sie liebt dich doch! Ganz bestimmt. So, wie du sie liebst. Und ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt zum Äskulap gehe und nachsehe, ob der Stiftskanzler wieder wohlauf ist.«
»Helena …«
»Ja?«
»Ich … ich wollte dich nur noch fragen, ob … ach ja, ich wollte dich noch fragen, wann ich endlich Gewissheit habe, ob mir bei den Franzosen die Blattern mitgeteilt wurden?«
»Sehr bald schon. Wie viel Zeit ist genau vergangen, seit du bei ihnen warst?«
»Das ist jetzt rund zwei Wochen her.«
»Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass keine beginnenden Blattern unter den Franzosen waren. Es wird eher die Syphilis gewesen sein – und damit wirst du dich wohl kaum angesteckt haben, oder?«
»Gott bewahre! Du meinst also, mir ist nichts passiert?«
»Ich denke, es ist vorbei. Normalerweise zeigen sich die Blattern spätestens am vierzehnten Tag.«
»Normalerweise! Und wenn die Gefahr doch noch nicht vorüber ist? Ich könnte aus der Haut fahren mit dieser Ungewissheit! Und das Schlimmste ist: Ich konnte doch nicht ahnen, dass ich eine Krankheit verbreiten kann, bevor ich sie überhaupt selbst habe.«
»Es ist auch schwer vorstellbar, darum glauben selbst einige gelehrte Mediziner nicht daran.«
»Damit meinst du wohl auch unseren Äskulap.«
»Neue Erkenntnisse hält er für die Pest.« Eigentlich wollte sie sich nicht in ein derartiges Gespräch verwickeln lassen. Aber sie wollte auch nicht mehr davor flüchten.
»Ach, übrigens, Helena, du hast doch erwähnt, dass deine Großmutter trotz der Melkerknoten an den Blattern gestorben ist …«
»Ja, weil sie nicht die Melkerknoten der grauen Kühe hatte!«, unterbrach sie ihn. »Ich bin inzwischen selbst dahintergekommen und hatte deswegen auch bereits einen
gehörigen Disput mit dem Äskulap. Er glaubt nicht an ein Mittel gegen die Blattern.«
»Graue Kühe?« Sein Blick wanderte in die Ferne. »Das kann nicht sein. Um Wien herum, in meiner Gegend, gibt es keine grauen Kühe, aber ebenfalls Menschen, die mit den Blattern in Berührung gekommen sind und auf unerklärliche Weise überlebt haben.«
»Oh.«
»Weshalb stehen wir hier eigentlich herum und setzen uns nicht?«, fragte er unvermittelt.
»Du wolltest gehen«, erinnerte sie ihn.
Er bückte sich nach seinem Beutel. »Das kann ich morgen auch noch.«
»Hast du dir meinen Grundsatz zu eigen gemacht, indem du deinen Aufbruch hinauszögerst?«
»Scheint, da haben wir etwas gemeinsam«, gab er zurück und grinste verschmitzt.
Nicht nur das haben wir gemeinsam, dachte Helena, als sie sich nebeneinander aufs Bett setzten.
Gregor ließ ihr keine Zeit, weiter über ihre Gefühle nachzudenken, stattdessen fragte er: »Hast du dir schon einmal überlegt, dass der Schutz gegen die Blattern nur ein halbes Leben, oder sagen wir, zwanzig Jahre lang wirkt?«
Helena horchte auf, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann auch nicht sein. Schließlich hat meine Großmutter überlebt, als meine Eltern vor sechs Jahren an der Seuche gestorben sind.«
»Hatten deine Eltern auch die Melkerknoten?«
Wieder schüttelte Helena den Kopf.
»Sicher nicht?«
Sie zögerte und stützte den Kopf auf die Hände, um sich
nach Hause zu versetzen. Mit zusammengekniffenen Lippen suchte sie fieberhaft nach irgendeiner Erinnerung. Sie sah die Mutter in der Küche, in der Stube bei der Handarbeit, den Vater bei der Arbeit im Hof und bei der abendlichen Brotzeit. Nie hatte sie Melkerknoten auf den
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