Maedchenfaenger #4
das gegen das Sorgerecht verstieß. Doch bei den restlichen 12000 Kindern ging man von einer Entführung durch Dritte aus. Was hieß, dass ein Kind von einem Bekannten, einem Freund der Familie oder manchmal - in den seltenen, doch für die Öffentlichkeit besonders erschreckenden Fällen - von einem völlig Fremden gekidnappt worden war. Aus dem Schulbus geholt oder aus einem vollen Einkaufszentrum gefischt. Das waren die Fälle, die in die Schlagzeilen kamen und Großalarm auslösten. Aus gutem Grund. Während dieses Entführungsmuster statistisch gesehen selten vorkam, endete es fast immer tödlich.
Allerdings war mit dem explosiven Wachstum von Internet und Websites zur sozialen Vernetzung die Zahl der Entführungen durch Dritte in den letzten zehn Jahren dramatisch angestiegen. Böse Männer mussten nicht mehr in dunklen Ecken lauern oder nachts durchs Fenster spähen. Sie konnten am helllichten Tage direkt durch die Haustür hereinspazieren. An der überbesorgten Mutter und dem bewaffneten Vater vorbei durch den Computer geradewegs ins Kinderzimmer. Dort tauschten sie Fotos aus, chatteten, spielten Videospiele und erfuhren alle möglichen interessanten Dinge über den «schwierigen» Teenager, dessen Eltern ihn nicht verstanden. Das World Wide Web hatte ganz neue Jagdgebiete eröffnet. Unbehelligt streunten die Raubtiere durch Kinder-Chatrooms und Teenager-Netzwerke und suchten sich aus Millionen von Profilen ihre Beute heraus, die auf den Speisekarten von MySpace und Facebook standen, wo lächelnde Opfer ihre Feinde freiwillig mit appetitlichen Details über sich selbst versorgten. Hinter Tastatur und Bildschirm konnte sich die neue Sorte von Raubtier in alles Mögliche verwandeln: einen achtzehnjährigen Schüler, ein zwölfjähriges Mädchen, einen Talentscout, Jay-Zs besten Freund. Sie nutzten die Naivität der Kids aus und die Ignoranz ihrer Eltern, gewannen ihr Vertrauen und begannen langsam, vorsichtig, die Beziehung auszubeuten, bis sie ihr Opfer kaum merklich zu dem ultimativen, verheerenden Kick überredeten: dem Treffen in der Wirklichkeit. Und später, wenn mehrere Leben zerstört waren und endlich die Polizei anrückte, verschwanden sie mit einem einfachen Mausklick für immer in der schwarzen Tiefe des Cyberspace.
Bobby sah sich in dem rosa Zimmer mit der typischen Teenager-Dekoration um. Lainey wohnte noch nicht lange hier und nur widerwillig, doch sie hatte immerhin Poster aufgehängt und die Wände verschönert, was bedeutete, dass sie dieses Zimmer als ihr Zuhause betrachtete. Sie war unordentlich, aber auch wenn ihre Kleider aus Schubladen und Kisten quollen, hatte sie zumindest keinen Koffer gepackt. Es würde schwierig sein festzustellen, was fehlte oder, wichtiger, ob überhaupt etwas fehlte. Und dann war da das gesichtslose Bild in ihrer Freundesliste. Bobby würde alles darauf wetten, dass ElCapitan der vorgesehene Empfänger der sexy Fotos war. Und natürlich die beunruhigendste Tatsache, auf die er immer wieder zurückkam und die zugleich so harmlos schien: Seit dem Tag ihres Verschwindens hatte sich Lainey nicht mehr auf ihrer MySpace-Seite eingeloggt. Er wusste, dass MySpace für Teenager eine Art soziale Lebensader war. Ein Mädchen würde das Netz nicht einfach tagelang vernachlässigen - nicht freiwillig.
Bei 2185 als vermisst gemeldeten Kindern täglich landete natürlich nicht jedes Gesicht in der Zeitung, nicht jedes wurde zur Fahndung ausgeschrieben oder per AMBER-Alarm landesweit gesucht. Sonst wäre innerhalb von Minuten das System überlastet und die Bevölkerung in kürzester Zeit desensibilisiert. AMBER-Alarm - ein über das Funknetz laufendes Notrufsystem, das die Bevölkerung per Handy um Mithilfe bat - war reserviert für höchstgefährdete Fälle. Um ihn auszulösen, musste ein Polizist sich an strenge Kriterien halten: 1. der begründete Verdacht, dass eine Entführung vorlag, 2. der begründete Verdacht, dass Leib oder Leben des Kindes in ernster Gefahr war, und 3. ausreichende Beschreibung und Informationen, betreffend das Kind, den Verdächtigen und die Umstände der Entführung, ohne die die Mithilfe der Bevölkerung nutzlos wäre. Bobby tippte auf sein Notizbuch. Bei Elaine Emerson hatte er nicht genug in der Hand, um auch nur eines der drei Kriterien zu erfüllen. Er hatte nur sein Bauchgefühl.
Irgendwo zwischen dem öffentliche Panik auslösenden AMBER-Alarm und der Bagatellisierung als «Ausreißer» lag der «Missing Child Alert».
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