Maedchenlose
zu sein.«
Wieder blickte das Kind scheu zu ihr auf: »Meine Schwester ist im Himmel. Du bist anders, als sie; viel größer. Aber ich darf nicht davon sprechen.«
Ehe Nora weiter fragen konnte, wurde sie gebeten, herunter zu kommen. Ihr Herz wollte wieder sehr bange klopfen, doch faßte sie sich schnell und folgte dem Mädchen, das sie in ein elegantes Zimmer führte, wo die Frau vom Hause ihr entgegentrat, – eine schöne, sehr modern gekleidete Dame, kaum über die Mitte der zwanzig hinaus.
»Seien Sie willkommen, Fräulein Diethelm«, sagte sie kühl »und nehmen Sie Platz. Haben Sie eine gute Reise gehabt?«
»Ich danke, gnädige Frau, ich fand sehr angenehme Gesellschaft, die mir . ...«
»Sie sind noch sehr jung,« unterbrach die Dame.
»Ich werde in einigen Wochen 17 Jahre.«
»Sie haben viele kleinere Geschwister?«
»Nein, ich bin das einzige Kind meiner Eltern.«
»O!« sagte Frau v. Westheim mit gedehntem Ton und in offenbarer Enttäuschung. »Sie haben also gar keine Erfahrung im Umgange mit jüngeren Kindern?«
»Ich habe Kinder immer sehr lieb gehabt und mich gern mit ihnen abgegeben, wenn ich Gelegenheit dazu fand. Ich hoffe, gnädige Frau, guter Wille, Lust und Liebe werden meiner Unerfahrenheit zu Hilfe kommen und mich lehren, Ihre Wünsche zu befriedigen.«
»Wir müssen es hoffen. – Sie werden es nicht ganz leicht finden, Erna zu behandeln; sie ist ein sehr eigentümliches Kind von verschlossenem Charakter, und es erfordert große Konsequenz und eine gewisse Strenge, um ihren Starrsinn zu brechen – natürlich immer mit weiser Mäßigung gepaart.«
»Hoffentlich gelingt es mir, Ernas Liebe zu gewinnen, ich will mir alle Mühe dazu geben«, sagte Nora warm; sie fühlte, daß sich eine innige Sympathie mit dem einsamen Kinde in ihrem Herzen regte.
»Es liegt leider nicht viel Wärme in Ernas Natur«, versetzte die Mutter mit einem halben Seufzer, »seien Sie nicht zu sanguinisch in dieser Hinsicht. Doch wenn Sie stets mit dem Kinde zusammen sind, wenn es sich gewöhnt, alles von Ihnen zu empfangen, was es braucht, so findet sich vielleicht eineZuneigung in dem verschlossenen Gemüt. Mir selbst erlauben leider vielfache andere Pflichten nicht, mich so ausschließlich mit Erna zu beschäftigen, daher suchte ich nach einer Stellvertreterin, der ich sie mit vollem Vertrauen übergeben könnte.«
»Ich will mich bemühen, mich Ihres Vertrauens würdig zu machen, gnädige Frau«, erwiderte Nora, indem sie unwillkürlich einen erstaunten Blick auf die Mutter warf, welche ihr Kind so ganz aus der Hand geben wollte.
»Ihr Name ist Eleonore?«
»Eigentlich wohl, doch bin ich nie anders als Nora genannt worden.«
»Entschuldigen Sie, der Name klingt zu romantisch für ein junges Mädchen in Ihrer Stellung. Ich werde Sie Lorchen nennen und Sie meinen Leuten unter diesem Namen vorstellen. Und nun kommen Sie, daß ich Sie mit Erna bekannt mache.«
Gesenkten Hauptes folgte Nora ihrer Gebieterin, welche in keiner Weise geneigt schien, sie wie ein Kind des Hauses zu betrachten; das Attentat auf ihren Namen that ihr bitter wehe, und doch wagte sie gegen die Entschiedenheit, mit der Frau v. Westheim sprach und verfügte, keinen Widerspruch.
»Komm her, Erna«, rief die Mutter dem Kinde in ernstem Tone zu, «und sage Lorchen guten Tag.«
Widerstrebend erhob sich die Kleine und ging langsam auf die beiden zu; es fiel Nora auf, daß ein Fuß nicht in Ordnung war, sie hinkte leicht, was ihren Bewegungen etwas Gezwungenes und Ungraziöses gab.
»Dies ist deine neue Gefährtin, Erna, sie wird mitLiebe für dich sorgen, dich unterrichten und mit dir spielen, du wirst ihr stets gehorsam sein und ihr Freude machen. Versprich mir das.«
Erna hob die Augen nicht vom Boden auf, in dem finstern Gesichtchen drückte sich ein stummer Widerstand aus. Wiederholt drang Frau v. Westheim auf eine bestimmte Zusage, endlich wendete sie sich ungeduldig ab. »Du hast heute wieder einen bösen unartigen Tag, und ich habe nicht Zeit zu warten, bis du besser geworden bist. Du wirst morgen deine Strafe dafür empfangen.«
»Bitte, gnädige Frau«, sagte Nora schüchtern, »erlauben Sie mir, mich allmählich mit Erna zu befreunden, sie fürchtet sich wohl vor der Fremden, aber sie wird mit der Zeit schon erkennen, daß sie keinen Grund dazu hat.«
»So will ich Sie mit ihr allein lassen, versuchen Sie Ihr Glück. Sie werden müde von Ihrer Reise sein, ich schicke ihnen den Kaffee nach oben, richten Sie sich hier nach
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