Maedchenlose
überreichte ihr eine Karte, auf der Frau v. Westheim ihr mitteilte, daß ihr Mann an der Fahrt verhindert sei, der Diener ihr aber das Gepäck und einen Platz in der Post besorgen würde. Nora übergab ihm ihren Gepäckschein und ging auf seinen Rat ins Wartezimmer, wo sie sich still in eine Ecke setzte und nicht verhindern konnte, daß Thräne auf Thräne aus ihren Augen rann. Das neue Leben begannmit einer Täuschung; gerade auf den Empfang von seiten des Herrn selber hatte Frau v. Mansfeld so großes Gewicht gelegt und ihn Nora als einen Beweis dargestellt, daß sie wie eine Tochter des Hauses betrachtet werden sollte. Wie viele andere Täuschungen sollten noch folgen? – –
Der Diener meldete, daß die Post bereit stände, und Nora folgte ihm vor die Thür. Mit Schrecken betrachtete sie den schwerfälligen, eng verschlossenen Postwagen, in welchem schon mehrere Herren sehr verschiedener Stände Platz genommen hatten: Hilfe suchend blickte sie umher, als eine Dame, die sie schon im Wartezimmer bemerkt hatte, auf sie zukam und ihr anbot, zu ihr in den Beiwagen zu steigen, ihr Sohn könne den Platz mit ihr tauschen. Dankbar folgte das junge Mädchen der freundlichen Aufforderung: die offenbare Teilnahme der Dame, die etwas ungemein Gütiges, Mütterliches an sich hatte, fiel wie ein warmer Sonnenstrahl in ihre tiefe Niedergeschlagenheit, und es dauerte nicht lange, bis sie ihrer Begleiterin die Hauptzüge ihres Lebens dargelegt hatte. Als sie erwähnte, daß sie ins Westheimsche Haus ginge, sagte die Dame: »Da werden wir Nachbarn sein, mein liebes Fräulein; mein Mann ist Pfarrer an der Kirche, die Westheims besuchen, und unsere Häuser liegen nahe bei einander. Herzlich soll es mich freuen, Sie zuweilen bei uns zu sehen, vielleicht würden meine jüngeren Kinder zu der kleinen Erna passen. Lassen Sie uns gute Freunde und getreue Nachbarn werden!«
Unter so freundlichen Gesprächen, bei denen Nora allmählich ihre gewohnte Stimmung wiederfand, erschien ihrdie Fahrt nicht lang, auch gewährte ihr der halb offene Wagen manchen hübschen Blick auf die sonnige Landschaft. Der schöne Wald, der sich in mannigfachem Wechsel von Berg und Thal von beiden Seiten der Chaussee hinzog, erinnerte sie an die waldigen Hügel ihrer Heimat, und der breite Strom, den sie auf einer mächtigen Fähre kreuzten, erregte ihr lebhaftes Interesse. Nach kurzer Fahrt am andern Ufer machte die Pfarrerin sie auf die Stadt aufmerksam, welche vor ihnen emporstieg. »Sieht sie nicht glückverheißend aus mit ihren Türmen und den stattlichen alten Gebäuden? mit den grünumkränzten Häusern, die den sonnigen Abhang hinaufklettern? Glauben Sie nur, liebes Fräulein, auch hier wohnen gute und teilnehmende Menschen, auch hier waltet Gottes Vaterhand über jedem einzelnen, Ihm vertrauen Sie sich an, Er wird Sie sicher leiten!«
Die Wagen rollten dröhnend in den Posthof, die Passagiere stiegen aus; der Diener mußte noch zurückbleiben, um auf das Gepäck zu warten, so erbot sich die Frau Pfarrerin, Nora bis an die Thür des Westheimschen Hauses zu begleiten. Mit warmen Dankesworten schied die letztere von der unverhofft gefundenen Freundin, aber beredter noch, als ihr Mund, sprach der Ausdruck ihres Gesichts, ihre ganze Haltung von dem Trost und der Aufrichtung, die ihr zu teil geworden waren. Mutig und entschlossen überschritt sie die Schwelle des Hauses und trat in ein neues Dasein ein.
Ein nett gekleidetes Mädchen empfing Nora und führte sie in ein Zimmer im obern Stock; sobald sie abgelegt habe, werde die gnädige Frau sie rufen lassen. Es warein kleines Stübchen mit zwei Betten, übrigens sehr einfach und sauber eingerichtet. Längst hatte Nora sich vom Staube befreit, ihr Haar geglättet und ihren Anzug geordnet, aber immer noch blieb die verheißene Botschaft aus. Sie trat in die halboffene Thür des Nebenzimmers, auch dieses war einfach, aber wohnlich ausgestattet; an einem der Fenster saß ein kleines Mädchen, tief über ein Buch gebeugt, – war es Erna? Nora erschrak fast bei dem Anblick; die schwarzen Haare hingen bis in die Stirn, die starken dunklen Brauen, die langen gesenkten Wimpern gaben dem Gesicht etwas Finsteres, Unkindliches. Sie trat näher und fragte freundlich: »Bist Du Erna von Westheim ?«
Die Kleine blickte scheu empor, senkte aber die Augen sogleich wieder auf ihr Buch. »Ja«, sagte sie kurz, »wer bist du?«
»Ich heiße Nora, ich bin gekommen, um bei dir zu bleiben und dir eine liebe, treue Schwester
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