Maedchenlose
Antwort aus England ankam, war längst der Tag der Abreise da. Dann dachte sie an ihren kleinen Schatz, den sie schon manchmal hatte angreifen müssen, was sollte geschehen, wenn er auf die Neige ging? Sie hatte keine Ahnung, wie die Verhältnisse ihrer Eltern ständen, ob nicht ihre Mutter selbst in Verlegenheit sei. Nein, nein, es mußte geschehen, wie schwer ihr der Schritt auch fallen mochte! Sie schickte ein Gebet empor um Licht und Kraft zu mutigem Entschluß. Als Elly nach Hause kam, war sie ruhig und gefaßt. Sie wußte es im voraus, daß die Freundin mit ihrer ganzen Lebendigkeit gegen diese Wendung ankämpfen würde, aber sie blieb fest dabei, daß es so am besten sei und kein anderer Weg ihr offen stände. So teilte sie denn Frau v. Mansfeld ihre Entscheidung mit und wartete mit zitternder Spannung auf die Antwort,die in wenigen Tagen einlief und Nora für den ersten August auf eine Station der Eisenbahn beschied, wo Herr v. Westheim selbst das junge Mädchen in Empfang nehmen wolle, um ihr die zweistündige Postfahrt bis M. zu ersparen.
Es war am letzten Abend vor der Abreise; die beiden Freundinnen saßen eng umschlungen in ihrem kleinen Zimmer und tauschten Abschiedsworte und Zärtlichkeiten miteinander aus. »Meine Elly«, sagte Nora, »nie, nie kann ich dir und den Deinen genug für die rührende Liebe danken, die du, die ihr Alle mir in dieser Zeit meiner Verlassenheit erwiesen habt. Für immer bleibt dieser Aufenthalt in eurem Hause ein Lichtpunkt in meiner Erinnerung, o wie oft werde ich daran denken, wenn wir getrennt sind!«
»Sprich nur nicht von Dankbarkeit, Nora, wenigstens nicht gegen mich; alles, was ich dir thun und erweisen kann, ist nur der notwendige Ausdruck meiner grenzenlosen Liebe für dich. Um wieviel ärmer wäre ich ohne deine Freundschaft! O Nora, Nora, ich möchte meine Fäuste ballen gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals, das mir alles Gute gewährt und dir alles Schwere auferlegt, das mich auf Reisen schickt und dich in die Verbannung!«
»Sprich nicht so, mein geliebtes Herz, es ist ja kein rauhes, fühlloses Schicksal, sondern der liebe Gott selbst, der uns auf verschiedene Wege führt. Wieviele Mädchen müssen meinen Weg gehen, wieviele würden mich beneiden um die leichte angenehme Stellung!«
»Du bist ein Engel von Sanftmut und Güte, meineHerzens-Nora; und ich wundere mich nur, daß dir nicht längst schon Flügel gewachsen sind, um dich über uns arme Sterbliche zu erheben. Wenn Tante Westheim, die ich fast gar nicht kenne, wenigstens den Schatz zu erkennen wüßte, den sie in ihrem Hause haben wird, aber ich hörte ...«
»Nein Elly, sage mir nichts über sie, laß mich ihr vollkommen unbefangen gegenübertreten. Ich gedenke, will's Gott, meine Pflicht an der kleinen Erna treulich zu erfüllen, und gelingt es mir nur erst, mir ihr und ihrer Mutter Liebe und Vertrauen zu erwerben, so soll alles übrige mir nicht zu schwer fallen. Ich möchte doch so gern der Empfehlung deiner Mama Ehre machen«.
Schmerzlich war am nächsten Tage der Abschied, und heiße Thränen flossen auf beiden Seiten. Frau v. Mansfeld schloß Nora zärtlich in ihre Arme und erklärte, sie wolle ihr stets eine mütterliche Freundin bleiben und ihr in jeder Not und Verlegenheit mit Rat und That zur Seite stehen. Der Oberst und die Geschwister begleiteten Nora auf den Bahnhof; es war, als könnten die beiden Mädchen sich nicht trennen, und erst der gellende Pfiff der Lokomotive endigte ihre Abschiedsworte. Ein letztes Nicken und Winken – wehende Tücher und eine hochgeschwenkte Mütze – dann flog der Zug dahin, Heimat und Freunde blieben hinter Nora zurück – sie war allein.
Sechstes Kapitel.
In der Fremde.
Traurig und in sich gekehrt legte Nora die Strecke zurück. welche der Bahnzug durcheilte; ihr war zu Mut, als müsse sie Abschied nehmen von ihrer sorglosen Jugend, von allem, was ihr bisher lieb und vertraut gewesen war. Noch nie hatte sie die kleinste Reise allein gemacht, die sorglichste Liebe hatte bisher jeden ihrer Schritte behütet; jetzt trat sie in eine neue, fremde Welt ein, und niemand war da, um sie auf der unbekannten Bahn zu leiten und zu beraten.
Beklommenen Herzens verließ sie in K. das Coupé und sah sich nach Herrn v. Westheim um, der sie hier erwarten wollte, aber sie fand keinen, der Frau v. Mansfelds Beschreibung entsprochen hätte. Als sie ratlos auf dem heißen sonnigen Perron stand, trat ein Diener auf sie zu, fragte, ob sie Fräulein Diethelm sei und
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