Maedchenmoerder Ein Liebesroman
mich.
Natürlich glaube ich nicht, dass Hunde denselben Verstand haben wie Menschen. Dennoch bin ich überzeugt, dass Tinka auf ihre Art begriffen hat, was in der Zeit, die ich fort gewesen bin, geschehen ist. Nach meiner Rückkehr war sie die Einzige, von der ich mich verstanden gefühlt habe, weil sie die Einzige war, die mich einfach nur angeschaut hat, ohne Zirkus zu machen. Und ich kann bis heute nicht begreifen, warum ich sie in der Klinik, in der ich die ersten Wochen verbringen musste, nicht rund um die Uhr, sondern nur ein paar Stunden täglich bei mir haben durfte. Tinkas Daueranwesenheit hätte mir mehr geholfen als das ganze Qi Gong und EMDR und »psychodynamisch imaginative« Traumatrallala, das sie mir stattdessen aufgedrängt haben.
Glauben Sie ernsthaft, man kann das, was ich erlebt habe, mit einem »inneren Team« oder der »Baumübung« verarbeiten? (»Julia, schließen Sie jetzt die Augen und spüren Sie die Kraft, die durch Ihre Fußsohlen hindurch in Ihren Beinen emporsteigt. Spüren Sie die Ruhe, die sich in Ihrem Bauch ausbreitet. Die Kraft, die Ihre Arme durchströmt, bis in die Fingerspitzen hinein. Die Ruhe, die Ihren Kopf ganz schwer und leicht zugleich werden lässt. Stellen Sie sich Ihren Lieblingsbaum vor, eine stolze Eiche oder mächtige Fichte, und spüren Sie, wie stark Ihr Stamm ist und wie Ihre Krone in den Himmel wächst.«)
Ich schwöre Ihnen: Wenn Sie nicht vorher schon eine Macke hatten, haben Sie anschließend eine.
Aber damit es nicht wieder heißt, ich sei »störrisch«, wird die »stolze Eiche« jetzt ganz ruhig und stark in den Himmel wachsen und die Dinge aus sicherer Baumkronendistanz betrachten, so wie es ihr in der Klinik beigebracht worden ist.
Sehen Sie die Stadt dort unten? Das ist Arles. Arles wurde von den Galliern gegründet, von Caesar erobert, und heute gehört es den Franzosen. Sein berühmtester Einwohner war Vincent van Gogh, aber der braucht uns nicht zu beschäftigen, denn er hat nur sich selbst das Ohr abgeschnitten und keine anderen Wesen gequält. In der Mitte von Arles, nicht weit von der Rhône entfernt, liegt das Amphitheater. Falls Sie schwindelfrei sind und sich mit mir ein bisschen weiter aus meiner Krone hinauslehnen wollen, können Sie die sommerlich-festlich gekleideten Menschen sehen, die in die Arena strömen. In Arles beginnt an diesem Freitag die » Féria du Riz «, das alljährliche »Reisfest«, bei dem es darum geht, sich über die Reisernte zu freuen und Stiere zu töten.
Falls Sie zu den Leuten gehören, die bislang dachten, französische Stierkämpfe verliefen unblutig und wären lediglich eine Art verschärftes »Hasch mich«, empfehle ich Ihnen, zurückzuklettern und sich in meiner Krone zu verstecken. Diese Kämpfe, bei denen es darum geht, den Stieren bunte Bänder von den Hörnern zu pflücken, gibt es zwar auch, aber Sie denken doch nicht, dass mein Peiniger - den ich einstweilen ruhig wieder meinen Peiniger nennen darf - Lust gehabt hätte, mit mir ein solch harmloses Spektakel aufzusuchen.
Denn das kleine rothaarige Püppchen mit der großen schwarzen Sonnenbrille, das in der Arena ziemlich weit oben auf einer der Steinstufen sitzt, bin ich. Und das etwas größere, blonde Püppchen, direkt daneben, in der Jeansjacke, ist er. Gerade kauft er bei einem Getränkeverkäufer eine Dose Perrier und eine Dose Orangina und besitzt sogar die Güte, Letztere an mich weiterzureichen. Da mir die Sonne direkt ins Gesicht scheint und meine Haut sehr empfindlich ist, hätte ich gern einen der Strohhüte, die ebenfalls in der Arena verkauft werden, ich verzichte jedoch darauf, ihn um einen zu bitten.
Die Musik, die Sie selbst, wenn Sie sich tief in meine Krone verzogen haben, hören können, stammt von einer mexikanischen Band, die jetzt aber ihre Gitarren einpackt, da der eigentliche Stierkampf beginnt und dieser von einer Blaskapelle begleitet wird.
Die fünf- oder zehntausend Menschen (ich bin sehr schlecht darin, Menschenmassen zu schätzen) beginnen zu applaudieren, als zwei Männer mit schwarzen Umhängen und wippenden Federhüten in die Arena geritten kommen. Ihre Pferde wollen bei den Dressurfiguren allerdings nicht recht mitziehen, und das Publikum beginnt zu lachen. Der Künstler, der sicher zwei Tage damit zugebracht hat, mit schwarzer Farbe Stierschatten und die Worte » Fauve d’amour, verité dans l’epée « auf das riesige Sandoval zu sprühen, dürfte an dieser Stelle das erste Mal weinen. (Nein, auch ich
Weitere Kostenlose Bücher