Maenner fuers Leben
beeilen … Oder ich könnte anrufen und sagen, dass wir ein bisschen später kommen …?»
Aus irgendeinem Grund wirkt seine Nervosität beruhigend auf mich. Ich ziehe den Mantel aus, lege ihn über die Armlehne der Couch und sage mutig, was er hören will: «Ich will nirgendwo hingehen.»
«Ich auch nicht», sagt er, und dann streckt er die Hand aus, die Handfläche nach oben gedreht, um meine bittend. Ich reiche sie ihm, und dann falle ich ihm entgegen, und meine Arme umschlingen seine Taille. Seine Schultern, seine Brust, seine Arme – alles fühlt sich so warm an, so fest und stark, und noch besser als in meiner Erinnerung. Ich schließe die Augen, unsere Umarmung wird enger, und wir fangen an, uns langsam im Takt einer imaginären Musik zu wiegen – einer klagenden Blues-Ballade, bei der man manchmal unerwartet anfängt zu weinen, obwohl einem gar nicht traurig zumute ist.
Er flüstert meinen Namen, ich flüstere seinen, und mir kommen die Tränen.
Dann sagt er: «Ich habe dich sehr lange in meinen Träumen gesucht, Ellie.» Einfach so. Bei jedem anderen würden diese Worte aufgesetzt klingen. Aber bei Leo ist es eine ehrliche Zeile aus unserer eigenen Ballade, und er sagt, wie es ist.
Passiert das wirklich? , denke ich, und dann stelle ich die Frage laut.
Leo nickt und flüstert: «Ja.»
Ich denke an Andy – natürlich denke ich an Andy –, aber trotzdem hebe ich langsam den Kopf. Unsere Gesichter berühren sich sanft, Wange an Wange, Nase an Wange, Nase an Nase. Ich halte ganz still und lausche seinem Atem, unserem gemeinsamen Atem. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen, bevor seine Unterlippe meine Oberlippe streift. Ich drücke mich an ihn, unsere Münder berühren sich ganz, unsere Lippen öffnen sich. Wir tun das Undenkbare, das Unausweichliche, mein Kopf ist leer, und alles und jeder außerhalb dieses kleinen Apartments in Queens löst sich auf und verschwindet. Nur wir beide halten etwas fest, für das ich keinen Namen habe.
Bis mein Telefon wieder klingelt.
Das Geräusch erschreckt mich, als hätte ich tatsächlich eine Stimme gehört. Andys Stimme. Aber als ich das Telefon hervorhole, sehe ich wieder Suzannes Namen. Es ist eine SMS, und sie ist als «dringend» markiert. Aus irgendeinem Grund gerate ich in Panik; ich stelle mir vor, dass mit unserem Vater etwas passiert ist, und ich sehe schon die Worte vor mir: Dad ist tot . Aber stattdessen lese ich den Befehl meiner großen Schwester: Ruf mich sofort an . Mehr nicht.
«Alles in Ordnung?» Leo wirft einen Blick auf mein Telefon und schaut sofort weg. Er weiß, was immer da auf meinem Telefon zu sehen ist, geht ihn nichts an. Noch nicht, jedenfalls.
Ich klappe es zu. «Ich … ich weiß nicht», stottere ich.
«Andy?»
Ich zucke schuldbewusst zusammen. «Nein. Meine Schwester. Ich glaube … ich glaube, ich sollte sie vielleicht anrufen … Es tut mir leid …»
«Kein Problem.» Leo reibt sich das Kinn und tritt zwei Schritte zurück. «Ich … ich bin da.» Er deutet auf sein Schlafzimmer, und dann wendet er sich ab und geht durch die Diele davon. Ich widerstehe dem Drang, ihm nachzulaufen; ich möchte so gern auf seinem Bett sitzen, ihn sehen, wie er mir zusieht.
Ich atme ein paarmal tief durch, lasse mich auf die Couch fallen und drücke die Kurzwahltaste mit Suzannes Nummer. Der Augenblick ist unterbrochen, denke ich, aber die Stimmung ist nicht zerstört.
Meine Schwester meldet sich beim ersten Klingeln und sagt genau das, was ich erwartet habe. «Wo bist du?»
«Ich bin in New York.» Ich habe das Gefühl, ich weiche ihr aus. Bevor ich Leo geküsst habe, hätte ich dieses Gefühl nicht gehabt.
«Wo da?»
«In Queens», sage ich schuldbewusst.
«Ellen. Wo bist du?», fragt sie unerbittlich.
«Ich bin bei Leo … Wir kommen gerade vom Shooting zurück … Du erinnerst dich? Coney Island?» Ich weiß nicht, warum ich nicht offener zu meiner Schwester bin. Sie war immer auf meiner Seite. Schon bevor es eine Seite gab.
«Was geht da vor?» Jetzt ist sie hörbar aufgebracht.
«Nichts», sage ich, aber mein Ton lässt ahnen, dass mehr dahintersteckt, und sie hört es natürlich.
«Hast du ihn geküsst?» Das ist unverblümt, sogar für Suzannes Verhältnisse.
Ich zögere und lasse sie mein Schweigen deuten. Sie fragt: «Hast du … mit ihm geschlafen?»
«Nein», sage ich, und wahrscheinlich klingt es nicht besonders empört – vielleicht, weil mir dieser Gedanke in den letzten paar Stunden, Minuten, Sekunden
Weitere Kostenlose Bücher