Maenner fuers Leben
mir auf; widerstrebend hilft er mir in den Mantel und folgt mir in den Flur und zur Haustür. Als wir die Treppe hinuntergehen, erscheint ein Taxi in der Ferne und kommt durch die leere Straße auf uns zu. Als wäre das ein Zeichen des Schicksals, eine Ermahnung, auf Kurs zu bleiben. Ich überquere den Gehweg, trete vom Randstein, schiebe mich zwischen zwei geparkte Autos hindurch und winke dem Fahrer zu. Leo bleibt in einigem Abstand stehen und sieht zu.
«Wo fährst du hin?», fragt er. Seine Stimme klingt ruhig, aber in seinem Blick liegt Panik. So habe ich ihn noch nie gesehen. Noch vor kurzer Zeit hätte ich darüber Genugtuung empfunden, hätte mich siegreich gefühlt. Jetzt macht sein Blick mich nur noch trauriger.
«In mein Hotel», sage ich und nicke dem Fahrer zu, als er mein Gepäck in den Kofferraum legt.
«Rufst du mich an, wenn du da bist?»
«Ja», sage ich, aber ich weiß nicht, ob ich dieses Versprechen halten werde.
Leo kommt zu mir, legt mir die Hand auf den Arm und sagt noch einmal meinen Namen. Ein letzter Protest.
«Es tut mir leid», sage ich, und ich wende mich ab und rutsche auf den Rücksitz. Ich zwinge mich zu einem tapferen Lächeln. Alles verschwimmt vor meinen Augen, denn mir kommen die Tränen. Panisch versuche ich sie wegzublinzeln. Ich schließe die Wagentür und halte zum Abschied die flache Hand ans Fenster. Genau wie am Morgen nach unserem Nachtflug.
Aber diesmal weine ich nicht, und ich schaue nicht zurück.
Sechsunddreißig
In Rekordzeit, so kommt es mir vor, überqueren wir die Queensboro Bridge gegen den dichten Strom der Berufspendler und fahren auf die Lichter von Manhattan zu. Wir fahren schnell, und der Fahrer legt ein paar riskante Spurwechsel hin, sodass ich das Gefühl habe, ich sei mit knapper Not aus Leos Apartment und somit einer Katastrophe entkommen.
Ich sitze auf dem Rücksitz und schaue durch die Trennscheibe nach vorn auf die Straße, und ich bemühe mich, die letzten vierundzwanzig Stunden und vor allem die letzten Minuten zu verdauen, und ich verspüre schon Reue darüber, dass ich diese Grenze übertreten und Leo berührt habe.
Ich kann nicht glauben, dass ich meinen Mann, dass ich Andy betrogen habe.
Eigennützig wie ich in letzter Zeit bin, sage ich mir, dass ich Leo vielleicht küssen musste , um ihn loszulassen – und um mich von der Vorstellung zu lösen, ich hätte mich mit Andy nur begnügt . Wenn man sich mit etwas begnügt, bedeutet das doch schließlich, dass einem gar nichts anderes übrigbleibt. Dass man etwas nimmt, weil es besser ist als gar nichts. Aber ich hatte die Wahl. Und ich habe mich entschieden.
Nach dieser Erleuchtung geht mir sofort noch ein weiteres Licht auf: Ich begreife, dass ich Andy lange Zeit als perfekt empfunden habe, ebenso perfekt wie unser gemeinsames Leben. Und erst als Leo wieder in mein Leben kam, bekam ich das Gefühl, ich hätte mich mit etwas begnügt. Mich begnügt mit einem perfekten Leben, mit all dem, was man sich selbstverständlich wünscht. Mit einer guten Familie. Mit einem schönen Haus. Mit Reichtum. Es war fast, als hätte ich meine Gefühle bei all dem als unwesentlich betrachtet, denn es konnte ja nicht auch noch sein, dass ich Andy wirklich liebte – zusätzlich zu all den Häkchen auf dieser Liste. Ich glaube, unbewusst habe ich einfach angenommen, meine Gefühle für den dunklen, komplizierten, distanzierten Leo müssten einfach echter sein. Ein Stoff für traurige Liebeslieder.
Wir schlängeln uns durch den Verkehr in der Upper EastSide, und ich erinnere mich, wie meine Mutter mir einmal erzählt hat, einen armen Mann zu lieben sei genauso leicht, wie einen reichen Mann zu lieben. Es war eine ihrer vielen Weisheiten, die mir altmodisch und unzutreffend erschienen – und zwar nicht nur, weil ich noch ein halbes Kind war. Wir standen auf dem Parkplatz vor der Bank, und wir hatten eben ihren Freund von der Highschool getroffen, einen Mann namens Mike Callas, von dem meine Mutter sich wegen meines Vaters getrennt hatte, nachdem Mike aufs College gegangen war. Suzanne und ich hatten sein Foto im Jahrbuch hundertmal angeschaut und fanden, dass er trotz seiner etwas bescheuert aussehenden Ohren ziemlich hübsch sei, und besonders gefiel uns sein dichtes, lockiges Haar. Aber als wir ihn jetzt trafen, war das Haar nicht mehr da, und seine Ohren sahen noch größer aus. Er war zu einem durchschnittlich teigigen Mann mittleren Alters mit einem nichtssagenden Gesicht verblasst. Sein Lächeln, das
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