Maenner wie Tiger
Harry, ich bin so voll Angst.«
»Das sind wir alle. Hier kannst du nicht helfen. Geh hinüber!«
»Ja«, sagte Charley und sah mich hilfesuchend an. »Möge Gott uns helfen!«
»Schreib ihm! Vielleicht hilft er uns«, höhnte Harry. Dann sagte er zu mir: »Auch du gehst hinüber. Hier bist du überflüssig.«
»Ich weiß, Harry. Nicht weil ich Angst habe, gehe ich. Nur, nun ja – tempus fugit . Wäre ich nur nicht so alt! Was wirst du tun?«
»Wie soll ich das wissen? Das hängt davon ab, was die anderen tun, nicht?«
Die anderen, ja! Und wie er das sagte! Sie waren schon zu Feinden geworden. Unsere Kameraden. Feinde jetzt. Ich konnte es noch immer nicht glauben.
Zehntes Kapitel
Der Schatten auf der Lichtung wurde kürzer und kürzer. Und sie saßen, die Männer, saßen regungslos. Wärme sog den Tau auf, brachte die Geißel der Moskitos. Sie saßen noch immer. Dann stieg die Sonne hinter Bäumen empor, brannte steiler und steiler auf die Köpfe. Die leichte Brise, von der Dämmerung gebracht, erlosch von selbst. Und immer noch saßen sie.
Es sah aus, als würden sie noch sitzen, wenn der nächste Tag beginnt: unbeweglich, ungerührt, unnachgiebig.
Die Sonne fiel jetzt auf das Rockefeller-Hotel. Sie legte den Schatten des Bohrturms über die Veranda wie ein dickes schwarzes Kreuz, unmittelbar über Harry, der dort saß. Mit der Sonne rückte das Kreuz weiter, und Harry saß in ihrer vollen Grelle, klein und blaß. Den Priester konnte ich nicht sehen, er war aber da, irgendwo. Oben waren die Vorhänge zugezogen, das Sonnenlicht abzuhalten, aber die Mädchen waren ebenfalls da.
Still war es. Wir hatten uns an das Bohrgeräusch so gewöhnt – es war ein Teil unseres Lebens, wie Atem. Jetzt aber war es still, zu still. Niemand stand oben auf der Arbeitsplattform des Bohrturms. Das war noch nie vorgekommen. Nicht einmal zu Weihnachten. Der Bohrmeißel war ihr Gott, sie hatten ihn abgewürgt. Heiden sind sie, dachte ich. Schrecklich. Keine Ordnung mehr, keine Disziplin, keine Zivilisation.
Sie machten sich planmäßig an die Sache. Am Vormittag schon hatten sie schichtweise einander abgelöst, stündlich, der Hitze wegen. Etwa zwanzig belagerten jeweils das Rockefeller-Hotel, indes die übrigen beim Tagraum drüben unter Bäumen saßen. Sie hatten den Lautsprecher ins Freie gezerrt. Höhnisch rülpste die wohlbekannte Trompete. St.-Louis-Blues, Senhor Armstrong natürlich.
Gern hätte ich gewußt, was sich Harry denken mochte, dort in der Veranda. Er saß wie ein Symbol niedergehender Autorität. Nur die Fahne, die hielt er hoch. Was ich mir dachte, das wußte ich genau: Wäre ich nur zwanzig Jahre jünger! Hätte ich noch cojones, hätte ich noch Saft und Kraft! Ich würde vor Gewalt nicht zurückschrecken. Ja, wenn, wenn, wenn …
Ich wußte: Man hätte ihn nicht allein lassen sollen. Sogar Luke und Leo gewöhnten sich an die Anarchie. Sie stellten sich unter das Vordach ein Tischchen und begannen Schach zu spielen. Sie verhielten sich neutral, ach, so neutral! Sogar Tomasino war neutral unter seinem Leichentuch.
Ich setzte mich zu ihnen und sagte: »Ich fühle mich elend.« Luke jedoch sah mich kalt an, als überlegte er, welche Pille er mir geben solle. Da bemerkte er, daß ich den Tränen nahe war. Alles, was er sagte, war: »Das ist schlecht. Du paßt nicht auf.« Aber er sagte es zu Leo, und er meinte das Spiel.
»Luke!« flehte ich.
»Stör mich nicht!«
»Luke, sie sind hilflos!«
»Das sind wir alle. Hilflos kommen wir zur Welt. Das ist einmal so.«
»Luke, sie sind keusch!«
»Keusch?« sagte er mit der fachmännischen Stimme des Arztes und zuckte die Achseln. »Das ist nur ein sehr vager Begriff.«
»Luke, sie sind Jungfrauen!«
»Auch das ist nur ein Begriff. Jungfräulichkeit? Ein steriler Zustand … Also gut«, fuhr er hart fort, »sie sind Jungfrauen. Aber wie lange noch?«
»Luke, ich bitte dich …«
»In diesem Land? Ohne einen, der sie schützt? Es ist nur eine Frage der Zeit. Die Bordelle warten.« Der Whisky schmeckte scheußlich. Luke spuckte ihn mir vor die Füße. »Es ist keinen gebrochenen Knochen wert«, fuhr er fort und sah zu den anderen hinüber, »wenn unsere Männer ein paar Monate vorgreifen.«
»Schrecklich, wie du sprichst!«
»Nicht wahr?«
»Und was jetzt?«
»Was jetzt?« Er lächelte sauer. »Warum scherst du dich nicht endlich zum Teufel?«
Die Mädchen waren wieder auf den Balkon getreten. Schlechte Regie. Sie hätten drinnen bleiben sollen.
Luke
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