Männerküsse: homoerotische Geschichten (German Edition)
heran. »Du siehst aus, als wenn du einen Geist gesehen hättest.«
Ich hatte in den letzten Wochen dutzende Male wegen ihm abgespritzt. Ich musste dringend etwas tun.
»Zachary?«
Endlich fand ich die Stimme wieder, bevor ich mich gänzlich zum Idioten degradieren konnte. »Woher kennst du meinen Namen?«
»Oh, das ist eine lange Geschichte«, erwiderte er und lächelte sein Zehntausend-Dollar-Lächeln.
Ich leerte das Glas Champagner in einem Zug und stelle es klirrend neben mir auf einen Tisch. »Na dann, schieß los«, sagte ich und spürte, wie der Alkohol durch meinen Körper jagte und heiße Impulse durch die Nervenbahnen schoss, als ich das erste Mal bewusst in seine Augen blickte.
»Nun, ich stand mit Sean – deinem Chef – dort drüben an der Bar und unterhielt mich mit ihm, als dich diese laute Person plötzlich in Beschlag genommen hatte. Ich sah deinen urkomischen Gesichtsausdruck und fragte Sean, ob du immer so verzweifelt aussehen würdest. Da erzählte er mir wer du bist und was du so machst. Und dann bin ich auch schon rübergekommen.«
»Mein Held in glänzender Rüstung, hm?« Meine Pupillen weiteten sich vor Schreck und ich wünschte, ich hätte das nicht laut ausgesprochen.
»Na ja, eher so was wie meine gute Tat für heute.« Zwanzigtausend Dollar.
»Und woher kennst du meinen Chef?«, fragte ich verwirrt.
»Sean ist mein …« Für einen Augenblick wünschte ich mir, die Zeit anhalten zu können. Ich wollte das Offensichtliche nicht hören. »… Onkel.«
Ich musste die Augen zusammengekniffen haben, als er zur Antwort ansetzte. Jetzt öffnete ich sie wieder. Ungläubig. Innerlich jauchzend, äußerlich weltmännisch kühl. »Dein Onkel?«
»Ja.«
»Ist nicht dein Ernst.«
»Doch.« Wieder dieses berühmte Lächeln, von dem ich augenblicklich abhängig wurde.
Ich liebte meinen Chef in diesem Moment. Also nicht lieben , sondern vergöttern. Ich wollte ihm huldigen, für solch eine einzigartige Verwandtschaft.
»Ich bin übrigens Francis.«
»Ich weiß.«
»Ah, verstehe. Die Bierwerbung oder das Seraphim-Cover?«
»Die Sonnenbrille.«
Er streckte mir die Hand hin und ich ergriff sie. »Freunde nennen mich James.«
»Schön dich kennen zu lernen, James.«
»Ganz meinerseits, Zachary.«
Die Abendgesellschaft fand auf einem Landsitz statt. Irgendwo in den Wäldern vor New Jersey. Das Anwesen allein hatte dreißig Zimmer, dazu gehörten ein fünfzig Meter langer Pool, samt Poolhaus – das größer als meine Wohnung war –, ein See inklusive Anlegesteg und Boot, ein zehn Hektar großer Park und Stallungen für die zwölf Pferde des Besitzers, der Haupt-Klient unserer Kanzlei war.
Wenn mir jemand einen Tag zuvor gesagt hätte, dass ich demnächst mit Francis J. Twain im Mondschein spazieren gehen würde, hätte ich den Kerl wegen Unzurechnungsfähigkeit einweisen lassen. Oder ich hätte ihn wahlweise nach den Pillen gefragt, die er sich eingeschmissen hatte.
Die Tatsache, dass James ein Weltstar war, wenn auch kein Sänger oder Schauspieler, wurde im Laufe des Abends immer unbedeutender. Ich hätte sie vielleicht sogar ganz vergessen können, wenn mich seine unglaubliche Schönheit nicht permanent daran erinnert hätte. Ich wusste, dass viele Models für dumm gehalten wurden. Das Klischee wurde meistens bestätigt, dass nur der Körper von Interesse war, nicht der Verstand. Oftmals hatten sie keine anständige Ausbildung oder wurden beruflich nicht gefördert, da sie sich mit ihrem Aussehen keine Sorgen darum machen mussten. James dagegen war alles andere als ungebildet. Er hatte seinen MBA gemacht und würde demnächst ein Praktikum bei einem Wirtschaftsprüfer antreten.
Wir unterhielten uns die halbe Nacht. Spazierten am See entlang und statteten den Pferden einen Besuch ab. An seinem Umgang mit ihnen vermutete ich, dass er als Kind des Öfteren mit Tieren aller Art in Berührung gekommen sein musste; womöglich war er im ländlichen Wyoming sogar mit ihnen aufgewachsen. Ich lächelte bei dem Anblick und genoss es, dieses Detail über ihn zu wissen, das sonst nirgendwo veröffentlicht war.
Irgendwann kehrten wir zurück ins Haus, machten es uns mit Wein, Käse und Trauben in der Küche bequem und diskutierten darüber, ob Yoko Ono wirklich Schuld an allem war. Ich wusste nicht genau, wie spät es war – fühlte aber, dass es diese seltsame Zeit zwischen Nacht und Morgen sein musste –, aber es spielte auch keine Rolle. Die letzten Besucher fuhren nach Hause oder zogen
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