Männerlügen - warum Frauen immer die Wahrheit wissen wollen und Männer behaupten, dass es die gar nicht gibt
Geschichte?«, fragt er nach einer Pause. Kunst ist, wenn’s dauert, dachte sich Rainer, und wenn man nicht von seinen Schmerzen abgelenkt wird. Er rieb sich die Kniekehlen. Endlich beginnt der Ältere, ein Holzfäller, die Geschichte zu erzählen, die er nicht versteht. Im nahen Wald wurde er Zeuge, wie ein Räuber einen Samurai überfallen, gefesselt und dessen Frau vor seinen Augen vergewaltigt hat. Später wird der Samurai tot im Wald aufgefunden. Man ergreift den Räuber und macht ihm den Prozess. Jeder der Beteiligten erzählt nun, den eigenen Motiven folgend, eine völlig andere Version der Tat. Als man vor Gericht auch noch den getöteten Samurai vernimmt, der als Geist aus einem weiblichen Medium spricht und behauptet, er habe sich der Schande wegen selbst erdolcht, wurde es Rainer zu viel. Er griff zur Fernbedienung.
»Lass weiterlaufen. Nicht stoppen.« Amelie stand in der Tür. Rainer hatte sie nicht bemerkt. »Guckst du schon länger?«
»Lang genug, dass ich wissen will, wie es ausgeht.«
»Komm her.«
»Nein, ich will stehen.«
Am Ende des Films gesteht auch noch der Holzfäller, dass seine Version vor Gericht – die Frau bringt die beiden Männer dazu, um sie zu kämpfen, wobei ihr Mann vom Räuber getötet wird – ebenfalls erlogen ist. Er wollte damit vertuschen, dass er den wertvollen Dolch des Samurai mitgenommen hatte. DasGericht kann nicht zur Wahrheitsfindung kommen. Am Ende entdecken die drei Männer noch ein am Tor abgelegtes Neugeborenes, das der Holzfäller mit sich nimmt. Er hat schon sechs Kinder, da wird er auch noch ein siebtes durchbringen.
Rainer drehte sich zu Amelie um, die immer noch in der Tür stand. Ihre Augen glänzten feucht.
»Was ist?« Momente wie dieser waren Rainer unangenehm, machten ihn unsicher. Was will sie damit sagen, dass sie da steht und nichts sagt? Hat er irgendwas verpasst?
»Isa hat angerufen.« Isa war Amelies Kollegin. »Mein Chef hat sich erhängt.«
Lange Stille. »Gibt es einen Abschiedsbrief?«, wollte Rainer wissen.
»Keine Ahnung.«
»Woher weißt du dann, dass es Selbstmord war? Vielleicht wollte jemand es so aussehen lassen wie Selbstmord.«
»Du suchst schon wieder nach Fluchtwegen.«
»Und du glaubst, du bist schuld.«
»Was heißt hier glauben? Ich habe ihn erpresst und jedes Mal, wenn er mich sah, wurde er daran erinnert, dass er erpressbar ist. Das hat er nicht mehr ertragen.«
»Das ist wie in dem Film, Amelie, wie in ›Rashomon‹. Das ist deine Version. Vielleicht hatte er Krebs im Endstadium, vielleicht ist ihm seine Frau hinter sein Gefummel gekommen und wollte sich von ihm trennen, vielleicht hatte die Airline gedroht, ihn rauszuwerfen. Was ist die Wahrheit? Nur eine Lüge, die noch nicht entlarvt ist. Nix ist safe.«
»Das sagst ausgerechnet du, der Wahrheitsfreak?!«
»Genau deshalb. Weil die Wahrheit über die Wahrheit ist: Es gibt sie nicht, DIE WAHRHEIT. Jeder hat seine eigene. Nur manchmal, wenn man Glück hat, passen sie zusammen.«
Als Amelie sich in den Sessel neben dem Kamin sinken ließ,nahm sie das Ischtar-Tor vom Sims und warf es ins Feuer. Rainer reagierte nicht drauf. Beide beobachteten, wie sich das Tor mit schmerzvoll anmutenden Windungen in Asche verwandelte.
»Scheißsymbolik. Würde ich aus meinen Filmen sofort rausschneiden lassen. – Ist das jetzt das Ende, Amelie?«
»Von dem, was da am Tor angefangen hat, ja. Wir verbrennen die Wahrheit, unsere Wahrheit, so wie du sie missbraucht hast.«
»Ich, missbraucht?«
»Dein ständiges ›Sag die Wahrheit, sag die Wahrheit!‹, das hieß doch nichts anderes als ›Bitte tu nichts, was du mit einer Lüge covern müsstest‹.«
»Stimmt.«
»Also ging’s um dich, nur um dich. Um dich und deine Ängste. Ego-Shooter eben.«
Rainer nahm den Schürhaken und stocherte in der Asche des Tores herum.
»Würdest du jetzt auch rausschneiden lassen«, bemerkte Amelie.
»Was?«
»Das Gestochere in der Asche. Wie soapy sieht das denn aus?«
»Und jetzt?«
»Du hast mal so einen Spruch abgelassen, wie dass die Lüge nicht übern roten Teppich durchs Hauptportal kommt, sondern sich übern Lieferanteneingang reinschleicht oder so. Aber wenn sie mal drin ist, dann … was war dann?«
»Kriegst du sie nicht mehr raus. Wie den Hausschwamm.«
»Krass, wie den Hausschwamm. Den haben wir auch bei uns, Rainer.«
»Moment! Wieso …?«
»Weißt du, wann ich dich zum ersten Mal belogen habe? An jenem Abend, als du mir das mit Peter vorgehalten hast und ich
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