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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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strahlte hoch droben. Die Sterne waren schon am Verblassen. Lange stand er erregt da. Er tat sich selber leid und machte sich doch auch Vorwürfe. Er kehrte sich der Wand zu und rief. Aber da war keine Antwort. Ergrimmt holte er seine kleine Hacke aus dem Gürtel und begann sich einen Weg hinein zu graben. Er grub und schalt. Im Augenblick war er drei, vier Fuß weit eingedrungen. Da hörte er ganz drinnen eine Stimme sprechen: »Du ungeratenes Kind!« Da grub er mit vermehrter Kraft. Im Grunde der Höhle öffnete sich eine Tür. Der Alte schob Edelweiß hinaus und sagte: ,,Geh! Geh!« Dann schloss sich die Felswand wieder. Schmollend sagte sie zu ihm: »Wenn du mich als deine Frau liebhast, warum hast du meinen Vater so behandelt? Was für ein alter Taoist mag das gewesen sein, der dir dies üble Werkzeug gab, mit dem du die Leute zur Verzweiflung bringst!«
    Als der Jüngling seine Frau wiederhatte, da war er froh und getrost und ließ sie reden. Nur das machte ihn besorgt, dass der Weg so steil und die Heimkehr so schwer sei. Edelweiß brach zwei Zweige ab; jedes setzte sich auf einen, da wurden Pferde daraus, und im Fluge ging’s davon. Im Augenblick waren sie zu Hause.
    Sieben Tage hatte man den Jüngling schon vermisst. Als er sich von dem Knecht getrennt hatte, hatte der ihn vergebens gesucht. Dann war er heimgegangen und hatte es der Mutter gesagt. Die hatte Leute ausgesandt nach allen Richtungen, Berg und Tal wurden durchstreift; aber keine Spur hatte sich gefunden. Sie war eben ganz fassungslos vor Aufregung, da hörte sie, ihr Sohn sei wieder da. Hocherfreut ging sie ihm entgegen. Wie sie aufblickte, sah sie die Frau. Vor Schreck wäre sie beinahe umgefallen. Ihr Sohn erzählte ihr seine Erlebnisse, und die Mutter war froh, sie wiederzuhaben.
    Edelweiß aber fürchtete, ihre seltsamen Schicksale würden das Gerede der Leute erregen. So bat sie die Mutter, an einen anderen Ort zu ziehen. Die war es zufrieden, und sie zogen um. Kein Mensch erfuhr von der Sache. Achtzehn Jahre wohnten sie friedlich beisammen, da starb die Mutter.
    Edelweiß sprach zu ihrem Mann: »In meiner Heimat ist eine Wiese, da lebt ein Fasan, der acht Eier brütet. Dort wollen wir sie begraben. Unser Sohn ist nun schon erwachsen. Wir brauchen nicht wiederzukehren.« Ihr Mann war einverstanden. Nach dem Begräbnis schickten sie den Sohn allein zurück. — Als er aber nach einem Monat wiederkam und nach seinen Eltern sah, da waren beide verschwunden.

99. Das Heimweh
    Yüo Dschung war aus Sianfu. Sein Vater starb früh. Er kam nach dessen Tode zur Welt. Die Mutter war Buddha ergeben, aß nichts Unreines und trank keinen Wein. Als ihr Sohn heranwuchs, liebte er den Trunk und fröhliche Unterhaltung. Im Stillen mißbilligte er die Art seiner Mutter. Häufig brachte er ihr fette und süße Speisen und suchte sie zum Essen zu überreden; aber stets schickte ihn die Mutter weg. Später wurde die Mutter krank. Er wartete ihrer aufs Beste. Sie bekam ein Gelüsten nach Fleisch. Der Sohn war in Verlegenheit, Fleisch zu finden; so schnitt er sich ein Stück aus seinem linken Bein und brachte es ihr dar.
    Kaum war die Krankheit etwas besser, da kam sie Reue an, dass sie das Gebot übertreten. Sie aß nichts mehr und starb. Der Sohn in seinem bitteren Leide nahm ein scharfes Messer und schnitt sich auch ins rechte Bein, also dass man den Knochen sah. Die Diener kamen, ihn zu retten. Er ward verbunden und bekam Arznei, da ward es besser. Er gedachte in seinem Herzen an die bitteren Entbehrungen seiner Mutter und wie so töricht sie gewesen. Darum verbrannte er alle Buddhabilder, die sie angebetet, und stellte ein Täfelchen auf, seiner Mutter zu opfern. Und jedesmal, wenn er betrunken gewesen, da klagte und weinte er davor.
    Mit zwanzig Jahren heiratete er. Doch da er immer keusch geblieben war, sprach er nach drei Tagen: »Dass Mann und Frau zusammen wohnen, ist etwas Häßliches und macht mir keine Freude.« Darauf entließ er seine Frau.
    Der Vater seiner Frau ließ ihn durch Verwandte bitten, sie wieder aufzunehmen, drei-, viermal. Doch er blieb fest. So wartete der Vater denn ein halbes Jahr; dann gab er seine Tochter einem anderen Mann.
    Yüo Dschung lebte ledig an zehn Jahre. Er war nicht wählerisch in seinem Umgang. Mit Knechten und Schauspielern trank er zusammen, und wenn ihn von den Nachbarn irgendwer um etwas bat, er konnte nichts versagen. Sprach einer: Meine Tochter hat keinen Kessel für ihre Aussteuer, so ging er flugs zu seinem

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