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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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Herde und gab ihm seinen eigenen. Er selbst entlehnte dann zum Kochen einen anderen in der Nachbarschaft. Alle nichtsnutzigen Leute kannten seine Art, und früh und spät ward er betrogen. Da hatte vielleicht einer im Spiel verloren und kein Geld zum Zahlen, dann kam er mit betrübten Mienen zu ihm und klagte ihm vor, er sei in äußerster Bedrängnis und müsse seinen Sohn verkaufen. Yüo Dschung hatte selber Geld zurückgelegt für die Steuer; er drehte seine Taschen um und gab es ihm. Nicht lange, so kam der Steuereintreiber vor seine Tür, und er musste damit anfangen, seinen Besitz zu verpfänden. So kam sein Eigentum allmählich herunter. Früher, solange er im Überfluss gelebt, waren seine Vettern und Verwandten um die Wette gekommen, sich ihm dienstbar zu erweisen, und er fragte auch nichts danach, wenn sie gelegentlich etwas von den Vorräten des Hauses mitnahmen. Nachdem er aber heruntergekommen war, blieben ihm nur noch ganz wenige treu. Zum Glück konnte er sich darüber hinwegsetzen.
    Einst am Todestag seiner Mutter ward er krank, so dass er nicht an ihr Grab konnte. Er wollte einen seiner Vettern schicken, um für ihn das Opfer darzubringen. Der Diener ging bei ihnen allen der Reihe nach herum; aber jeder hatte einen Vorwand abzulehnen. So brachte er denn seine Gaben im Hause dar und weinte vor der Ahnentafel. Es machte ihm recht zu schaffen, dass er keine Nachkommen hatte. Dadurch wurde es mit seiner Krankheit immer schlimmer.
    Während er so vor sich hindämmerte, fühlte er, wie ihn jemand streichelte. Er öffnete die Augen ein wenig, da war es seine Mutter. Erschreckt fragte er sie, warum sie komme.
    Sie antwortete: »Da niemand im Hause ist, um an mein Grab zu gehen, so kam ich hierher zum Mahle. Da sah ich, dass du krank bist.«
    Sie fragte ihn noch, wohin er ziehen wolle.
    Er sagte: »Nach Süden, ans Meer.«
    Als sie aufhörte mit Streicheln, da fühlte er eine Kühlung in seinen Gliedern. Er öffnete die Augen und sah sich um; aber es war niemand da. Seine Krankheit ward nun besser.
    Als er wieder aufstehen konnte, gedachte er eine Wallfahrt nach dem Südmeer zu machen; doch hatte er leider keinen Reisegefährten. Da traf es sich, dass in einem Nachbardorfe ein Pilgerzug sich zusammentat. Er verkaufte zehn Morgen Land, nahm den Erlös und schloss sich ihnen an. Doch die Pilger wiesen ihn zurück, da er nicht rein sei. Er bat sie flehentlich, da ließen sie ihn mit. Auf dem Wege aber war das Zimmer, wo er wohnte, immer voll von dem Geruch nach Ochsenfleisch, Knoblauch und anderen unreinen Speisen. Darum verabscheuten ihn alle um so mehr. Als er einmal betrunken schlief, benutzten sie die Gelegenheit und gingen weiter, ohne ihm etwas zu sagen. So musste er denn einsam seines Weges ziehen.
    Als er an die Grenze von Fukien kam, traf er einen Bekannten, mit dem er ein Glas Wein zusammen trank. Da saß auch eine berühmte Sängerin mit Namen Schneeflocke. Als er von seiner Reise nach dem Südmeer sprach, da äußerte Schneeflocke den Wunsch, sich ihm anschließen zu dürfen. Yüo Dschung war froh und ließ ihr Gepäck holen. So reisten sie zusammen ab. Sie teilten alles miteinander, doch hielten sie sich keusch zurück. Wie sie zum Südmeer kamen, da hatten die Pilger ihr Reinigungsopfer eben vollendet, und als sie ihn nun mit einer Sängerin zusammen daherkommen sahen, da mißbilligten und verlachten sie ihn noch mehr als zuvor, und sie hielten ihn für zu gemein, um mit ihm zusammen ihr heiliges Werk zu vollbringen.
    Yüo Dschung und Schneeflocke sahen ihre Gedanken. So warteten sie, bis jene hingegangen waren zu beten. Danach gingen auch sie. Die anderen waren fertig mit Beten; sie waren unzufrieden, dass kein Zeichen sich zeigte. Da traten Yüo Dschung und Schneeflocke zu ihnen und warfen sich zur Erde. Plötzlich sah man das ganze Meer voller Lotosblumen. Auf den Lotosblumen saßen Gestalten, die Kronen auf ihrem Haupte trugen, von denen Perlen herabfielen. Schneeflocke hielt sie für Heilige. Yüo Dschung aber sah näher zu, da trugen, die auf den Lotosblumen saßen, alle die Züge seiner Mutter. Eilig lief er hin und rief: »Mutter! Mutter!« und sprang ins Meer ihnen nach. Die Menge sah, wie alle die vielen Lotosblumen sich in ein Abendrot verwandelten, das das Meer färbte wie Brokat. Nach einer kleinen Weile wurden die Wolken wieder matt und die Wogen klar, und alles war dunkel.
    Yüo Dschung stand einsam am Ufer. Er wußte selbst nicht, wie er wieder herausgekommen war. Kleider und Schuhe

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