Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
waren ganz trocken. Da blickte er lange sehnsüchtig nach dem Meer und begann zu weinen. Seine Stimme hallte wider von den Inseln und Klippen.
Schneeflocke suchte ihn leise zu trösten. Traurig verließen sie den Tempel. Man mietete ein Schiff zur Rückreise nach Norden. Als sie gelandet, wurde Schneeflocke von einem reichen Herrn in Dienst genommen. Yüo Dschung setzte einsam seine Reise fort. Er traf einen Knaben von acht, neun Jahren, der vor den Häusern bettelte; doch sah er nicht aus wie ein Betteljunge. Als er ihn genauer fragte, erfuhr er, dass er von seiner Stiefmutter verstoßen worden sei. Er hatte Mitleid mit ihm. Der Knabe war anhänglich und wollte sich nicht von ihm trennen. Flehentlich bat er, ihn doch zu retten. So nahm er ihn mit nach Hause. Er fragte ihn nach seinem Namen.
Er sagte: »Ich heiße Schmerzenreich. Ich wuchs auf im Hause eines Mannes namens Yung; aber meine Mutter sagte, ich sei das Kind eines Mannes namens Yüo, der sie nach der Hochzeit verstoßen habe.«
Yüo Dschung erschrak und dachte bei sich: »Wäre es möglich, dass dies mein Sohn ist?«
Er fragte weiter, wo denn der Mann namens Yüo gewohnt habe.
Der Junge erwiderte: »Ich weiß es nicht; doch als meine Mutter starb, da gab sie mir ein Schriftstück und ermahnte mich, es nicht zu verlieren.«
Hastig verlangte Yüo Dschung das Schriftstück.
Schmerzenreich öffnete seine Tasche und nahm es heraus. Yüo Dschung überflog es; da war es der Scheidebrief, den er damals seiner Frau gegeben.«Ja, du bist mein Sohn«, sprach er dann.
Er fragte ihn nach der Zeit seines Geburtstages, und alles stimmte genau. Das war ihm ein rechter Trost in seinem Innern. Doch ging es mit seinem Besitz immer mehr bergab. Nach zwei Jahren war das Land vollends verkauft, und er konnte keine Diener mehr halten.
Eines Tages kochten Vater und Sohn zusammen ihr Essen, da trat plötzlich eine schöne Frau herein. Er blickte sie an, es war Schneeflocke.
Erstaunt fragte er, woher sie komme.
Sie sagte lächelnd: »Wir waren doch einmal fast wie Mann und Frau, was fragst du noch? dass ich dir früher nicht schon gefolgt, das kam, weil meine alte Amme noch lebte. Nun ist die Amme tot, und ich überlegte mir, wenn man sich keinem Manne anschließt, so ist man schutzlos preisgegeben; schließt man sich einem Manne an, so muss man seine Reinheit preisgeben. Überlegend, wie man beides vermeiden könne, fiel mir ein, dass ich am besten bei dir geborgen sei. Darum scheute ich nicht den weiten Weg.«
Mit diesen Worten legte sie ihren Schmuck weg und löste den Sohn beim Kochen ab. Als es Abend war, schliefen Vater und Sohn wie seither beisammen und bereiteten ein anderes Zimmer, um Schneeflocke zu beherbergen.
Schneeflocke verstand es aufs Beste, den Sohn zu erziehen.
Als die Verwandten Yüo Dschungs von der Sache hörten, brachten sie dem Yüo Dschung Geschenke von Speisen. Die beiden freuten sich darüber und behielten sie zu Gast. Für die Haushaltungsgeräte hatte Schneeflocke gesorgt, ohne dass Yüo Dschung fragte, woher sie kamen. Schneeflocke tat allmählich ihr Gold und ihre Perlen hervor und löste den alten Besitz wieder ein. So kam es, dass Knechte und Mägde, Pferde und Rinder von Tag zu Tag sich mehrten.
Yüo Dschung warnte zuweilen Schneeflocke: »Wenn ich betrunken bin, musst du dich von mir fernhalten, damit ich keine Schneeflocke sehe.«
Lächelnd versprach sie es ihm.
Eines Tages war er schwer betrunken und rief heftig nach Schneeflocke. Schneeflocke trat in bezaubernder Schönheit herein. Yüo Dschung betrachtete sie lange. Da kam plötzlich eine große Freude über ihn, und er begann wie verrückt herum zu tanzen.
»Ich bin erwacht, ich bin im Weine zu mir gekommen vom Licht der Erde. Diese Wohnung hier, darin ich wohne, ist das Himmelsschloß.«
Es dauerte lange, bis er abließ.
Von da ab trank er nicht mehr auf dem Markte, sondern trank mit Schneeflocke zusammen. Schneeflocke, die sich vom Weine fernhielt, tat ihm Bescheid in Tee.
Eines Tages war er etwas angeheitert und fuhr mit Schneeflockes Hand über seine Seite. Da entdeckte sie die Schnittnarben an seinen Beinen, die sich in zwei rote Lotosknospen verwandelt hatten und zwischen dem Fleisch hervorkamen. Sie verwunderte sich; er aber sagte lächelnd »Wenn du diese Blumen sich öffnen siehst nach zwanzig Jahren, dann hat unsere Scheinehe ein Ende.« Und Schneeflocke glaubte ihm.
Nachdem für Schmerzenreich eine Lebensgenossin gefunden war, übergab Schneeflocke die
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