Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
erfragen. Aber die Leute in diesem Land waren nur auf Ehre und Reichtum aus. Keinem einzigen war es um das Leben zu tun. So trieb er sich denn umher, und unbemerkt vergingen neun Jahre. Da kam er an den Strand des Westmeeres, und es fiel ihm ein: Jenseits des Meeres, da gibt es wohl sicher Götter und Heilige. So machte er sich denn wieder ein Floß zurecht, trieb über das Westmeer und kam in das Land des Westens. Dort ließ er das Floß schwimmen und stieg ans Ufer. Viele Tage hatte er mit Suchen zugebracht, als er plötzlich einen hohen Berg mit stillen, tiefen Tälern erblickte. Der Affenkönig stieg hinan, da hörte er im Walde einen Menschen singen, und der Gesang klang wie ein Lied von seligen Geistern. Eilig drang er in den Wald ein, um zu sehen, wer es wäre. Er traf einen Holzhacker bei der Arbeit. Der Affenkönig verneigte sich vor ihm und sprach: »Ehrwürdiger, göttlicher Meister, ich falle anbetend vor Euch nieder.« Der Holzhacker sprach: »Ich bin ein einfacher Arbeiter; was nennst du mich göttlicher Meister?« — »Wenn du kein seliger Gott bist,« antwortete der Affenkönig, »woher hast du denn dann dieses göttliche Lied?« — Der Holzhacker sagte lachend: »Du kennst dich aus in der Musik. Ich habe wirklich ein Lied gesungen, das mich ein Heiliger gelehrt.« — »Wenn du mit einem Heiligen befreundet bist,« sagte der Affenkönig, »so wohnt er sicher nicht weit von hier. Ich flehe dich an, mir den Weg zu seiner Wohnung zu zeigen!« — Der Holzhacker sprach: »Es ist nicht weit! Es ist nicht weit! Dieser Berg heißt der Berg des Herzens. Eine Höhle ist darin, da wohnt ein Heiliger, er heißt der Erkennende. Unzählige seiner Schüler haben die Seligkeit erlangt. Dreißig, vierzig Schüler sind noch immer um ihn versammelt. Du darfst nur diesem Weg nach Süden folgen, so kannst du seine Wohnung nicht verfehlen.« Der Affenkönig bedankte sich bei dem Holzhacker, und richtig kam er zu der Höhle, die jener ihm beschrieben. Das Tor war verschlossen, und er wagte nicht zu klopfen. So sprang er denn auf eine Kiefer und brach sich Kiefernzapfen ab, deren Samen er aß. Nicht lange, da kam ein Jünger des Heiligen, machte das Tor auf und sprach: »Was ist denn das für ein Vieh, das da solchen Lärm verführt?« Der Affenkönig sprang vom Baum, verbeugte sich und sagte: »Ich komme, um die Wahrheit zu lernen. Ich wage nicht zu lärmen.« Da musste der Jünger lachen und sagte: »Unser Meister saß gerade in Andacht versunken; da hieß er mich den Wahrheitssucher, der draußen stehe, hereinführen, und nun steht wirklich einer da. Nun, du kannst mit mir kommen!« Der Affenkönig zog seine Kleider zurecht, rückte den Hut gerade und trat ein. Ein langer Gang führte an prächtigen Gebäuden und stillen verborgenen Hütten vorüber bis an den Ort, wo der Meister auf einem Sitz von weißem Marmelstein aufrecht saß. Rechts und links von ihm standen dienend die Jünger. Der Affenkönig warf sich zur Erde und begrüßte ihn demütig. Auf die Fragen des Meisters erzählte er, wie er sich hergefunden habe. Und als er ihn fragte, wie er heiße, erwiderte er: »Ich habe keinen Namen. Ich bin ein Affe aus einem Steine geboren.« Da sprach der Meister: »So will ich dir einen Namen geben. Ich nenne dich Sun Wu Kung.« Hocherfreut bedankte sich der Affenkönig, und er hieß von nun ab Sun Wu Kung. Der Meister befahl den älteren Jüngern, den Sun Wu Kung zu belehren im Kehren und Putzen, im Aus- und Eingehen, im guten Benehmen, im Hacken des Feldes und Gießen des Gartens. Nach einiger Zeit lernte er schreiben, Weihrauch verbrennen und die Sutren lesen. Darüber vergingen sechs, sieben Jahre.
Eines Tages stieg der Meister zu seinem Lehrsitz empor und begann über die große Wahrheit zu reden. Sun Wu Kung verstand den geheimen Sinn und begann vor Freude zu zappeln und zu tanzen. Der Meister schalt ihn: »Sun Wu Kung, du hast noch immer nicht deine Wildheit abgelegt. Was fällt dir ein, dich so ungebührlich zu betragen!« Sun Wu Kung erwiderte sich verneigend: »Ich hörte Euch aufmerksam zu, da ging in meinem Herzen mir der Sinn der Rede auf, und unwillkürlich tanzte ich vor Freuden; ich ließ nicht wildem Wesen den Lauf.« Der Meister sprach: »Wenn du wirklich erwacht bist, so will ich dir die große Wahrheit verkündigen. Diese Wahrheit aber hat dreihundertsechzig Wege, auf denen man zu ihr gelangen kann. Welchen Weg soll ich dich lehren?« — Sun Wu Kung sprach: »Welchen Ihr wollt, o Meister.« — Der
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