Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
Fragen gab er keine Antwort.
Da wurde der Riese wild und schrie mit Donnerstimme: »Haut ihm den Kopf herunter!«
Aber Du Dsï Tschun blieb unbewegt. Da ging der Riese grimmig weg.
Dann kamen ein wilder Tiger und eine giftige Schlange brüllend und zischend daher. Sie taten, als wollten sie ihn beißen, und sprangen über ihn hinweg. Aber Du Dsï Tschun blieb unerschrocken im Geiste, und nach einer Weile lösten sie sich auf.
Plötzlich kam ein großer Regen in Strömen hernieder. Es donnerte und blitzte unaufhörlich, dass ihm die Ohren gellten und die Augen geblendet wurden. Es schien, als müsste das Haus zusammenstürzen. Das Wasser schwoll in wenigen Augenblicken und strömte bis an den Platz heran, auf dem er saß. Aber Du Dsï Tschun blieb unbeweglich sitzen und kümmerte sich nicht darum. Da ließ das Wasser wieder nach.
Dann kam ein großer Teufel mit einem Ochsenkopf. Der stellte einen Kessel im Hofe auf, darinnen kochendes Öl sprudelte. Er fasste ihn mit einer eisernen Gabel am Hals und sagte: »Wenn du mir sagst, wer du bist, so lass ich dich los!«
Du Dsï Tschun schloss die Augen und schwieg. Da packte ihn der Teufel mit der Gabel und schleuderte ihn in den Kessel. Er verbiss den Schmerz, und das sprudelnde Öl tat ihm nichts. Schließlich holte ihn der Teufel wieder heraus und schleppte ihn unten an die Stufen des Hauses vor einen Mann mit rotem Haar und blauem Gesicht, der aussah wie der Höllenfürst. Der schrie: »Schleppt sein Weib herbei!«
Nach einer Weile ward seine Frau gefesselt angebracht. Ihre Haare waren zerzaust, und sie weinte jämmerlich.
Der Teufel deutete auf Du Dsï Tschun und sprach: »Wenn du deinen Namen sagst, so lassen wir sie laufen.«
Aber er erwiderte kein Wort.
Da ließ der Höllenfürst die Frau auf alle Weise peinigen. Die Frau flehte ihn an: »Zehn Jahre lebe ich schon mit dir zusammen. Willst du nicht ein einziges Wörtlein reden, um mich zu retten? Ich halt es nicht mehr aus!« Dann stürzten ihr die Tränen stromweise aus den Augen. Sie schrie und schalt. Doch er redete kein Wort.
Da rief der Höllenfürst: ,,Haut sie in Stücke!« Und wirklich wurde sie vor seinen Augen unter Winseln und Kreischen in Stücke zerhackt. Aber Du Dsï Tschun rührte sich nicht.
,,Das Maß dieses Schurken ist voll!« schrie der Höllenfürst. ,,Er darf nicht länger unter den Lebenden weilen. Schlagt ihm den Kopf herunter!«
Sie töteten ihn, und er fühlte, wie seine Seele entwich. Der Ochsenkopf schleppte ihn nun in die Hölle, wo er alle Qualen einzeln über sich ergehen lassen musste. Aber Du Dsï Tschun blieb der Worte des Alten eingedenk. Die Qualen schienen auch nicht unerträglich. So schrie er nicht und redete kein Wort.
Nun wurde er wieder vor den Höllenfürsten geschleppt. Der sprach: »Dieser Mensch soll zur Strafe für seine Verstocktheit als Weib wiedergeboren werden.«
Die Teufel zerrten ihn zum Lebensrad, und er kam als Mädchen wieder zur Welt. Er war viel krank und musste fortwährend Arzneien schlucken und sich stechen und brennen lassen. Auch fiel er oft ins Feuer oder ins Wasser. Doch gab er nie einen Laut von sich. Allmählich wuchs er heran zu einer wunderschönen Jungfrau. Weil er aber nie redete, so hieß man ihn das stumme Mädchen. Ein Gelehrter verliebte sich in die Schönheit und heiratete sie. Sie lebten in Liebe und Eintracht bei einander, und sie gebar ihm einen Sohn, der schon mit zwei Jahren über alle Maßen klug und verständig war.
Eines Tages hatte ihn der Vater auf dem Arm. Da sprach er scherzend zu der Gattin: »Wenn ich dich so ansehe, so kommt es mir vor, als wärst du nicht stumm. Willst du nicht ein einziges Wörtchen mit mir reden? Wie schön wäre es, wenn du meine sprechende Rose sein wolltest!«
Die Frau blieb stumm. Wie er ihr auch schmeichelte und sie zum Lachen zu bringen suchte, sie gab ihm keine Antwort.
Da veränderten sich seine Mienen: »Wenn du nicht mit mir redest«, sagte er, »so ist es mir ein Zeichen, dass du mich verachtest; dann fang’ ich auch nichts mit einem Sohne an.« Damit ergriff er den Knaben und schlug ihm den Kopf an einen Stein, dass das Hirn heraus spritzte.
Weil Du Dsï Tschun das Knäblein so sehr liebgehabt, vergaß er die Warnung des Alten und rief: »Oh, oh!«
Aber noch ehe der Laut verklungen war, erwachte er wie aus einem Traum und saß an seinem alten Platz. Der Alte war auch zugegen. Es war etwa um die fünfte Nachtwache. Aus dem Ofen aber schlugen purpurne Flammen wild heraus und
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