Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
an seine Heimat zurück.
Plötzlich entdeckte er auf einem Berg eine Platte: Männer und Frauen stiegen in dichten Scharen hinauf und hinab, und alle weinten bitterlich.
Der Teufel sprach: ,,Das ist die Platte Heimatblick.«
Er führte ihn hinauf, und als er von der Platte einen Blick ins Land hernieder warf, da sah er seine Haustür greifbar nahe vor seinen Augen. Seine alte Mutter war auf einen Stab gestützt und weinte. Weib und Kind trugen Trauerkleider und einen Strick um den Leib und standen schluchzend vor der Tür. Wie er sie so stehen sah, da ging es ihm wie ein Messer durchs Herz, und er wollte sich losmachen und hinunterspringen. Aber der Teufel hielt ihn fest an seiner Kette und zerrte ihn von der Platte wieder herunter. Dann holte er aus dem Ärmel einen Stachelhammer hervor und trieb ihn damit vor sich her.
Als sie an dem Berge vorüber waren, da kamen sie an einen großen Fluss. Seine Wogen waren trübe und rot. An der Furt standen zahllose böse Teufel, die Peitschen und Gabeln in den Händen hielten und damit die Seelen der Abgeschiedenen ins Wasser hinunter stießen. Alte und Junge, Weiber und Kinder zu Hunderttausenden schwammen darin umher, bald bis über den Scheitel untertauchend, bald den Kopf herausstreckend. Und es war ein Geschrei und Heulen zum Herzzerreißen. Über den Fluss ging eine Regenbogenbrücke in goldenem Flimmerglanz. Darauf gingen vier oder fünf Leute. Sie alle trugen um den Kopf einen runden Heiligenschein und schritten mit den Füßen auf farbigen Wolken.
Der Teufel sprach: ,,Das ist der Höllen-Fluss. Die Sünder und Übeltäter müssen durchs Wasser, die Guten aber gehen über die goldene Brücke. Da es noch nicht bestimmt ist, ob du zu den Verdammten gehörst oder nicht, so will ich dich hinüber geleiten.« Mit diesen Worten nahm ihn der Teufel am Arm und wandelte auf dem Wasser zum jenseitigen Ufer hinüber.
Als Hu Di den HöllenFluss überschritten hatte, da erblickte er ein Dorf, aus dem mehrere Dutzend böse Hunde hervorkamen, die ihn unter wildem Bellen umringten, ihn in die Beine bissen und ihm die Kleider zerrissen. Erst als der Teufel sie mit aller Kraft verscheuchte, blieben sie zurück.
Dann sagte er zu ihm: »Das ist das Böse-Hunde-Dorf.«
Wieder gingen sie einige Meilen weit, da sah er eine Stadt mit hohen Toren und Türmen; darauf stand geschrieben: die Totenstadt.
Der Teufel sprach: »Nun sind wir da.«
Sie gingen in die Stadt und kamen an ein Amtsgebäude. Da waren Knechte und Torhüter, gerade wie in der Menschenwelt. Verbrecher in Fesseln und Banden wurden zitternd und bebend hinein geschleppt und kamen heulend und zähneklappernd wieder heraus in zahllosen Scharen. Die teuflischen Amtsdiener übten Erpressungen und ergingen sich in allerlei Quälereien, gerade wie sie es auch in der Menschenwelt machen.
Der Teufel, der den Hu Di anbrachte, ging mit seiner Tafel zuerst hinein.
Er selbst musste lange warten, bis von drinnen der Ruf erscholl: »Der Hu soll kommen!«
Ein Teufel schleppte ihn hinein durch die erste Halle, die zweite Halle bis zur inneren Halle. Dort hing eine große Tafel, auf der in roter Schrift geschrieben stand: Fünfter Höllenpalast. In der Halle saß ein König mit Fransenhut und einem Zepter in der Hand in dunkler Kleidung und mit roten, viereckigen Schuhen. Sein Angesicht war schwarz-violett und glänzend. Haar und Augenbrauen waren rot, und sein Schnurrbart hing wie lange Troddeln herunter. Er stützte sich auf seinen Tisch und saß aufgerichtet da. Zu seiner Rechten und Linken standen der Ochsenkopf und das Pferdegesicht auf ihre Lanzen gelehnt. Abseits davon stand im Seidenhut und blauen Mantel ein rotgesichtiger Richter, der das Buch des Lebens in der Hand hielt. Unten an den Stufen standen zwei Reihen von teuflischen Amtsdienern mit Peitschen und Prügeln in der Hand, die finster dreinsahen. Rechts und links waren vier paar Ölkessel aufgestellt, in denen das Öl wie kochendes Wasser brodelte, und eine acht Fuß hohe, eherne, glühende Säule, aus der die roten Feuerflammen empor schlugen. Ein Teufel spießte mit einer eisernen Gabel eine nackte Frau auf und warf sie in den Kessel. Zwei Männer mussten die Säule umfassen, und wenn sie losließen, wurden sie mit Stacheleisen geschlagen. Peitschen- und Prügelstrafen waren nur für die leichtesten Vergehen.
Als Hu Di vor die Halle geführt wurde, blieb er stehen, ohne niederzuknien.
Der König sagte zornig: »Du bist also Hu Di! Weshalb hast du mich beschimpft?
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