Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
hochgeehrt. Ich bin seine neunte Tochter. Mit sechzehn Jahren ward ich dem jüngsten Sohn des Felsdrachens vermählt. Mein guter Mann war hitzigen Wesens; darum verstieß er öfters gegen gute Sitte, und ehe ich ein Jahr mit ihm zusammen wohnte, traf ihn des Himmels Strafe. Einsam blieb ich übrig und kehrte in mein Elternhaus zurück. Mein Vater wollte mich zum zweiten Male verheiraten, doch ich wollte meinem Gatten die Treue wahren und tat einen Schwur, meinem Vater nicht zu folgen. Die Eltern wurden böse, und ich musste mich vor ihrem Groll hierher zurückziehen. Drei Jahre sind es her. Wer konnte denken, dass der gemeine Drache Tschauna, der für seinen jüngsten Bruder eine Gattin suchte, mir mit Gewalt die Hochzeitsgabe überbrachte. Ich sträubte mich, sie anzunehmen; aber Tschauna wußte sich bei meinem Vater wohl dranzumachen und war entschlossen, sein Vorhaben auszuführen. Mein Vater, unbekümmert, ob ich wollte oder nicht, sprach mich ihm zu. Nun kam der Drache Tschauna mit seinem jüngsten Bruder und wollte mich mit Waffengewalt entführen. Ich trat mit meinen fünfzig Getreuen ihm entgegen, und wir kämpften auf dem Anger vor der Stadt. Wir wurden besiegt, und ich fürchte, dass der Bube mir Schande antun wird, so dass ich mich vor meinem verstorbenen Gatten nicht mehr sehen lassen könnte. Darum habe ich ein Herz gefasst, Euch anzuflehen, ob Ihr mir Söldner leihen wollt, die Feinde abzuwehren, um meinen Witwenstand zu wahren. Wenn Ihr mir helft, so will ich Euch bis ans Ende der Tage dankbar sein.«
Dschou Bau erwiderte: ,,Ihr seid von einem edlen Stamme; habt Ihr denn keine Anverwandten, die Euch in Eurer Not zu Hilfe eilen, dass Ihr an einen sterblichen Menschen Euch wenden müsst?«
»Wohl ist mein Stamm berühmt und zahlreich. Wenn ich ihnen Briefe schickte und sie zu Hilfe kämen, so würden sie den Tschauna, diese Schuppe, zerreiben, wie man Knoblauch reibt. Doch hat mein verstorbener Gatte sich gegen den Himmel versündigt, und noch ward ihm Verzeihung nicht zuteil. Auch steht der Wille meiner Eltern mir entgegen, so dass ich mich an meine Sippe um Hilfe nicht wenden kann. Ihr werdet meine Not verstehen.« Da sagte Dschou Bau ihr seine Hilfe zu, und die Prinzessin dankte und nahm Abschied.
Als er erwachte, seufzte er lange noch ob des seltsamen Erlebnisses. Am anderen Tage sandte er fünfzehnhundert Soldaten ab, am Mädchensee die Wacht zu halten.
Am siebenten Tage des sechsten Monats stand Dschou Bau frühe auf. Es war noch dunkel vor den Fenstern; doch kam es ihm vor, als sähe er einen Mann vor dem Vorhang stehen. Er fragte, wer er sei. Der sprach: »Ich bin der Ratgeber der Prinzessin. Gestern hattet Ihr die Güte, Soldaten uns zu schicken, um uns aus unserer Not zu retten. Doch sind das alles lebende Menschen. Sie können nicht mit Unsichtbaren fechten. Ihr müsst uns verstorbene Soldaten schicken, dann erst ist uns geholfen.«
Dschou Bau besann sich eine Weile, dann fiel ihm ein: »Natürlich ist es so.« So ließ er den Feldschreiber in den Listen nachsehen, wieviele von seinen Soldaten im Kampfe gefallen waren. Man zählte zweitausend Mann Fußtruppen und fünfhundert Reiter. Er ernannte einen verstorbenen Offizier Mong Yüan zum Anführer, schrieb den Befehl auf ein Papier, das er verbrannte, um sie auf diese Weise der Prinzessin zur Verfügung zu stellen. Die lebenden Soldaten rief er zurück. Als er im Hofe sie nach ihrer Rückkehr musterte, fiel ein Soldat plötzlich bewußtlos nieder. Am anderen Morgen in der Frühe kam er erst wieder zu sich. Man fragte ihn, und er erwiderte: »Ich sah einen Mann in roter Kleidung auf mich zukommen, der sprach zu mir: ,Unsere Prinzessin ist für die gütige Hilfe Eures Herrn dankbar. Doch hat sie noch eine Bitte; darum soll ich Euch rufen.‹ Ich folgte ihm bis zu dem Tempel. Die Prinzessin hieß mich vortreten und sagte zu mir: ,Ich bin Eurem Herrn für die Entsendung der Geistersoldaten von Herzen dankbar. Nur der Anführer Mong Yüan ist nicht tüchtig. Die Räuber kamen gestern mit dreitausend Leuten, und Mong Yüan wurde von ihnen geschlagen. Wenn Ihr zurückkommt und Euren Herrn seht, so saget zu ihm, ich lasse ihn sehr bitten, einen tüchtigen Führer zu senden. Vielleicht kann mir dann geholfen werden.‹ Darauf ließ sie mich zurückbringen, und ich kam wieder zu mir.«
Als Dschou Bau diese Worte vernommen hatte, die mit seinem Traume merkwürdig zusammentrafen, da wollte er einen Versuch machen, ob die Sache stimme. Darum wählte
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