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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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blickte um sich, da lag er mitten in dichtem Gestrüpp. Ringsum war Wildnis, nirgends ein Haus, nirgends ein Grab zu sehen. Trotz der Kälte lief er wohl drei Meilen weit, bis er an die nächste Herberge kam. Der Wirt öffnete eben die Tür und fragte verwundert, woher er so früh komme. Er erzählte seine Erlebnisse und forschte nach, was das für eine Stelle sei, wo er die Nacht zugebracht. »In der ganzen Gegend hierherum sind alte Schlachtfelder,« war die Antwort, »man sieht hier manchen Spuk.«

72. Die Grabschänder
    In Hangtschou war ein Mann namens Dschu. Der lebte vom Gräberraub. Er hatte sechs, sieben Gesellen um sich versammelt. Zur tiefen Nachtzeit, wenn alles schwarz und dunkel war, nahmen sie die Hacken zur Hand und durchstreiften die Gegend. Sie waren unzufrieden, dass sie viel mehr trockenes Gebein fanden als Gold und Silber. So richteten sie eine Geistertafel her, um zu erkunden, wo Schätze verborgen seien.
    Eines Tages nahte sich der Bergkönig dem Altar und gab ihnen folgenden Spruch: »Ihr öffnet Gräber und nehmt den Toten ihre Habe. Das ist schlimmer als Raub und Diebstahl. Wenn ihr nicht ablasst von eurem Wandel, werde ich euch den Kopf abschlagen lassen.«
    Dschu erschrak aufs Äußerste und stellte sein Gewerbe ein, über ein Jahr lang. Doch weil seine Gesellen nichts zu leben hatten, verleiteten sie ihn, abermals die Geister zu rufen. Um es einmal zu versuchen, tat er, wie sie gesagt. Ein Geist nahte sich, der sprach: »Ich bin ein Wassergeist vom Westsee. Dort steht eine Pagode, an deren Fuß ist ein steinerner Brunnen. Westlich davon ist das Grab eines reichen Mannes. Das könnt ihr öffnen und werdet tausend Silberstücke finden.« Dschu war sehr erfreut und ging mit seinen Gesellen, die Hacke auf der Schulter, hin. Überall suchten sie den steinernen Brunnen, ohne ihn zu finden. Während sie umherstreiften, kam es zu ihnen wie eine Stimme, die ihnen ins Ohr flüsterte: »Ist denn das nicht ein Brunnen, dort unter dem Weidenbaum westlich von der Pagode?« Sie sahen nach, da fanden sie einen zugeschütteten, trockenen Brunnen. Sie gruben drei, vier Fuß tief, da kamen sie auf einen steinernen Sarkophag von ungeheurer Größe. Aber wie sich die ganze Bande auch anstrengte, sie konnten ihn nicht heben. Da sprachen sie zueinander: »Im Kloster der Stille ist ein Bonze, der hat einen Zauberspruch, durch den man Eisenstangen zum Fliegen bringen kann. Wenn man den hundertmal hersagt, so wird der Sarkophag von selbst sich öffnen.«
    Sie gingen zum Bonzen und versprachen ihm einen Teil der Beute. Der Bonze war auch ein Schurke. Als er ihre Worte hörte, da kam er herbeigelaufen. Er sagte seinen Zauberspruch über hundertmal; da öffnete sich der Sarkophag ein wenig. Dann streckte einer einen schwarzen Arm hervor, wohl ein Klafter lang, zog den Bonzen in den Sarkophag herein, zerriß ihn und fraß ihn auf, dass Fleisch und Blut rings umher spritzten und die Knochen mit dumpfem Klang zur Erde fielen. Dschu und seine Bande liefen vor Schreck davon nach allen Richtungen. Als sie am anderen Tag wiederkamen, um nachzuschauen, war da nirgends ein Brunnen zu sehen.
    Im Kloster der Stille fehlte ein Bonze. Alle wußten, dass Dschu ihn gerufen hatte. So verklagten sie den Dschu beim Richter. Dschu verlor bei dem Handel sein ganzes Vermögen und hängte sich schließlich im Kerker auf.

73. Go Schu Han
    Zur Zeit der Tang-Kaiser lebte ein großer Feldherr namens Go Schu Han. Der wohnte in jungen Jahren in Sianfu. Seine Frau war an einer Krankheit gestorben. Da er sie aber sehr lieb gehabt hatte, stellte er den Sarg in das Westgemach, und da er sich nicht von ihr trennen konnte, schlief er in demselben Raum. Um Mitternacht schien der Mond zum Fenster herein, dass der Boden schneeweiß glänzte. Go Schu Han lag seufzend auf seinem Bett und konnte nicht schlafen.
    Plötzlich ward die Tür aufgestoßen, und ein Ungetüm kam herein; das war ein Oger. Es war über zehn Fuß hoch, hatte Hosen an von Leopardenfell, Sägezähne und fliegende Haare. Ihm auf dem Fuße folgten drei Teufel. Sie trugen Perlenketten und tanzten im Mondschein.
    Sie sprachen also zu einander: ,,Der auf dem Bett dort liegt, wird ein berühmter Mann, was ist zu tun?« Der zweite sprach: »Er schläft schon.« Darauf packten sie den Sarg und trugen ihn in den Hof hinaus. Sie schlugen ihn mit den Händen auf, nahmen den Leichnam heraus und zerrissen ihn. Dann setzten sie sich im Kreis umher und begannen, ihn aufzufressen. Das Blut spritzte

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