Maerchen aus Malula
dieser Mann nach Hause, und sobald er das Zimmer betrat, witterte er mit seiner erfahrenen Nase den Geruch der Medizin. Es dauerte nicht lange, bis er die bräunlichen Kugeln in der Wandnische fand.
Als die Frau aus dem Bad kam, suchte sie die Wunderkugeln, doch sie fand sie nicht. »Hast du meine Medizin gegessen?« fragte sie ihren Mann ängstlich.
»Ja, weshalb fragst du?«
»O Gott im Himmel, du wirst schwanger werden. Wehe mir, warum habe ich mich mit diesem Vielfraß eingelassen?« jammerte die Frau und wünschte sich, der Medizinmann wäre einer der vielen Scharlatane gewesen.
»Beruhige dich, Frau. Sie haben viel zu fade geschmeckt, um mich schwanger zu machen.«
Aber von Monat zu Monat wurde der Mann dicker. Erst merkten die Leute es nicht, doch nach dem sechsten Monat war es niemandem mehr zu verheimlichen.
»Sag mal, bist du schwanger?« fragte ein Nachbar eines Morgens scherzend. Er wußte jedoch nicht, daß er bei dem Koloß in eine offene Wunde traf. Im neunten Monat konnte der Mann es nicht mehr aushalten. »Was soll ich machen, Frau?« fragte er hilflos.
»Mach dich auf und geh aufs Feld, dort schneide deine Hüfte auf und ziehe das Kind heraus.« Es war Winter, und überall lag Schnee. Der Mann nahm also ein Messer und ging aufs Feld, und als er dort angekommen war, schnitt er mit dem Messer seine Hüfte auf. Ein kleines Mädchen kam zur Welt. Er ließ es dort im freien Feld zurück und kehrte heim. Er war sicher, daß das Mädchen in kürzester Zeit sterben würde. Doch einige Gazellen, die bei einer nahen Tränke standen, beobachteten das kleine Wesen, dessen Schrei ihnen ins Herz schnitt. Sie hatten Mitleid mit dem weinenden Mädchen und säugten es, und von nun an kamen die Gazellen jeden Abend, leckten und stillten Wintertraube. So nannten sie das Mädchen, weil es blutverschmiert mitten im Schnee gelegen und wie eine rote Traube ausgesehen hatte. Jahrelang pflegten die Gazellen ihr Mädchen, bis es zu einer wunderschönen Frau herangewachsen war. Sie erfuhr ihre Geschichte von ihren Zieheltern und nahm sich ihren Rat zu Herzen, die Sprache der Menschen zu lernen, da sie früher oder später zu ihnen gehören würde.
Wintertraube konnte die Menschen nicht ausstehen, weil die sie dem Tode ausgesetzt hatten. Doch auf ihren Streifzügen mit den Gazellen belauschte sie die Gespräche der Reisenden, Bauern und Jäger. Sie wiederholte die Wörter, bis sie sie gelernt hatte, und je mehr sie die Sprache der Menschen verstand, um so mehr zog sie für sich und die Gazellen Nutzendaraus; denn sie konnte die heimtückischen Fallen erkennen, die die Jäger den Gazellen gestellt hatten, und ihre Freundinnen und Freunde davor warnen.
Da kamen eines Tages der Kronprinz und der Sohn des Wesirs geritten, um Gazellen zu jagen. Der Prinz ritt voraus, und er begegnete Wintertraube als erster. Ihre Schönheit berührte sein Herz.
»Was machst du denn hier?« fragte er verdutzt. Wintertraube erzählte ihm ihre Geschichte, doch bevor sie zu Ende erzählen konnte, kam der Sohn des Wesirs.
»Wollen wir sie uns teilen?« fragte er.
»All unsere Jagdbeute soll dein sein«, erwiderte der Prinz, »aber diese hier gehört mir.«
»Wie du befiehlst, mein Prinz«, antwortete sein Begleiter.
»Ich gehöre nur mir selbst«, widersprach Wintertraube, die Gefallen am Prinzen gefunden hatte, »doch ich gehe mit dir, wenn von jetzt bis zum Ende unserer Zeit kein Mensch mehr den Gazellen nachstellt. Sie sind meine Eltern.«
»Das gibt es doch nicht. Eine Wilde will Seiner Hoheit Befehle erteilen«, empörte sich der Sohn des Wesirs. Er drehte sich zu Wintertraube um: »Mache es dir in deinem wilden Kopf klar: Der Wunsch Seiner Hoheit ist für uns Untertanen Befehl.«
»Aber nicht für mich!« widersprach Wintertraube. »Was ist ein Prinz anderes als du und ich. Hat er etwa drei Beine?« fragte sie und trat einen Schritt zumsteilen Hang zurück, um sich einen Fluchtweg zu sichern, der für die Pferde unzugänglich war.
»Ihr Wille ist mein Wunsch. Reite zum Dorfältesten und gib ihm die Anweisung: Ab heute dürfen hier keine Gazellen mehr gejagt werden. Er soll auf Staatskosten fünfzig Wildhüter aufstellen. Hier ist mein Siegel. Beeile dich!« befahl der verliebte Prinz. Der Begleiter verstand die Welt nicht mehr, doch als ein guterzogener Untertan nickte er, nahm das Siegel und gab seinem Pferd die Sporen.
Zu Hause angekommen, ließ der Prinz einen Flügel seines Palastes für Wintertraube herrichten. Doch am
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