Maerchen aus Malula
nächsten Tag mußte er auf Wallfahrt gehen. Da bat er seine Mutter, auf Wintertraube achtzugeben, sie zu pflegen und zu erziehen, da er sie nach der Wallfahrt heiraten wolle. Die Mutter, jungverwitwet, versprach es, und der Prinz reiste ab, um den letzten Willen seines Vaters, des verstorbenen Sultans, zu erfüllen. Erst danach durfte er den Thron besteigen.
Als aber die Zeit herannahte, daß der Prinz zurückkehren sollte, nahm die Mutter Wintertraube mit an den Fluß und setzte sich dort mit ihr zusammen an den Rand des Wassers. Sie warf ihr seidenes Taschentuch mitten in den Fluß und befahl Wintertraube, es herauszufischen. Wintertraube bog sich nach vorn und streckte ihre Hand aus, um das Taschentuch zu ergreifen, aber die Mutter stieß sie in den Fluß hinein. Wintertraube schrie um Hilfe, als das Wasser siefortriß, doch die Mutter lachte nur, überließ sie den Wellen und kehrte nach Hause zurück.
Das Wasser führte Wintertraube mit sich fort, und sie wäre ertrunken, hätte ihre Hand nicht den Zweig eines alten Baumes erreicht, der am Ufer des Flusses wuchs. Mit letzter Kraft umklammerte sie den Zweig und stieg langsam aus der gefährlichen Strömung. Sie setzte sich in die Sonne, zitterte und weinte. Es dauerte aber nicht lange, bis plötzlich eine junge Frau mit zerfetzten Kleidern, um Hilfe schreiend, zu ihr stürzte. »Ich bitte dich, verbirg mich!« Wintertraube schaute um sich und entdeckte eine kleine Mulde. »Hier kannst du dich verstecken«, sagte sie und setzte sich so über die Vertiefung, daß ihr langes Kleid über der Mulde lag. Bald darauf kam ein Mann und fragte vor Wut schäumend nach der Frau. Wintertraube sagte, eine Frau wäre vorbeigerannt und ins Wasser gesprungen.
»Ich bringe dich um, du Lügnerin«, schrie der Mann. »Meine Frau kann nicht schwimmen. Wo ist sie?« rief er und kam auf Wintertraube zu.
»Unter meinem Rock«, antwortete Wintertraube ruhig. Der Mann schaute sie erstaunt an.
»Komm, hole sie dir heraus!« schrie sie ihn an. Der Mann starrte ungläubig, doch als er das Wimmern der Frau vernahm, schritt er auf Wintertraube zu, beugte sich nieder, um das Kleid hochzuziehen, aber Wintertraube nahm blitzschnell einen Stein und erschlug ihn damit.
»Du hast mich gerettet, ohne nach dem Grund zu fragen«, schluchzte die Frau erleichtert. »Durch meine Zauberkunst konnte ich alles in der Welt erreichen, nur diesen Mann nicht loswerden. Du hast mich von ihm befreit. Verlange von mir, was du magst. Ich erfülle es dir.« Wintertraube erzählte der Frau ihre Geschichte und sprach ihren Wunsch aus: »Ich möchte ein Schloß auf dem Hügel gegenüber dem Palast des Prinzen haben, in dessen Garten sich meine Zieheltern, die Gazellen, wohl fühlen.«
»Dein Wunsch ist erfüllt«, sprach die Zauberin. Wintertraube fiel in Ohnmacht, und als sie zu sich kam, befand sie sich in einem herrlichen Schloß auf dem Hügel gegenüber dem königlichen Palast. Der Wein umrankte eine Laube im Garten des Schlosses und trug reichlich rote Früchte.
Die Mutter des Prinzen aber kehrte nach Hause zurück, nachdem sie Wintertraube ins Wasser gestoßen hatte, schlachtete ein Schaf, begrub es im Hofe und ließ darauf ein marmornes Grab errichten mit der Inschrift: Hier ruht unsere Königin, die ihren Sohn über alles liebte. Sie eilte zum Hexenmeister am Hofe und verlangte von ihm, daß er ihr das Antlitz von Wintertraube gäbe. Das war für den erfahrenen Meister der Schwarzen Kunst nicht schwer. Nach einer kurzen Weile kam die Mutter verwandelt zurück. Ihre treuesten Diener vermochten sie nicht zu erkennen. Sie ordnete am nächsten Morgen im ganzen Land eine Trauerfeier für die verstorbene Königin an, und esvergingen nicht einmal zwei Tage, bis das ganze Land vom Tod der Königin erfahren hatte.
Gegen Mittag des dritten Tages fuhr das königliche Schiff in den Hafen der Hauptstadt ein. Der Prinz und seine Begleiter wunderten sich über die schwarzen Fahnen, die über allen Häusern und Palästen der Stadt wehten. Als er im Schloß ankam, trat ihm seine Mutter, die nun Wintertraube zum Verwechseln ähnlich sah, weinend entgegen. »Ich hatte nicht das Herz, sie draußen zu begraben, sie liebte nur dich und wollte auch nach dem Ableben in deiner Nähe bleiben. Das war ihr letzter Wunsch«, rief sie und zeigte dem Prinzen das Grab, wo sie das Schaf begraben hatte. Der Prinz weinte bitterlich und warf Asche über sein Haupt. Vierzig Tage lang trauerte er, dann ließ er den Geistlichen zu sich
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