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Maerchen aus Malula

Titel: Maerchen aus Malula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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JAHRE
    SEIN GEWEHR TRUG
     
    Ich war fünfzehn Jahre alt, als mein Großvater starb. Meine Eltern fuhren nach Malula, um ihn dort zu begraben, denn das war sein letzter Wunsch gewesen. Man erzählt, daß seine Brüder ihn hatten mitnehmen wollen, als sie nach Amerika auswanderten, doch er soll zu ihnen gesagt haben: »Ich will in Malula begraben werden. In Amerika fühlen sich meine Knochen nicht wohl.«
    Meine Eltern fuhren ohne uns Kinder zurBeerdigung. In der Nacht weinte ich leise unter meiner Decke. Ich liebte den alten Mann, obwohl er mich nicht besonders gemocht hatte.
    Er hatte einen ganz eigenen Humor. Wenn er bei uns zu Besuch war, was selten vorkam, da er in Malula lebte und Damaskus nicht leiden konnte, wollte er immer bei uns Kindern schlafen. Meine Eltern versuchten stets, ihm ihr großes Bett aufzudrängen, doch er zog es vor, im winzigen Kinderzimmer auf einer dünnen Matratze zu schlafen. Die ganze Nacht tollte er mit uns herum; er spielte Karten wie der Teufel, und mit den Murmeln konnte kein Gassenjunge besser umgehen als dieser alte Mann. Er warf die kleinen Glaskugeln so gut, daß er andauernd gewann.
    Verlor er doch einmal, so mußten sich alle Heiligen seine Flüche und Verwünschungen gefallen lassen. Er mogelte wie ein Taschenspieler, und seine Finger waren so erbarmungslos schnell, daß es richtig Spaß machte, ihn aufs Kreuz zu legen. Die anderen Erwachsenen waren viel zu dumm, uns beim Spiel ernst zu nehmen.
    Wenn er bei uns war, spürten wir keine Müdigkeit und spielten, bis mein Vater die Geduld verlor und seinen eigenen Vater mahnend ins Bett schickte.
    Der Alte mimte vor seinem Sohn den erschrockenen Lausbuben. Doch nach einer Weile meldete er sich leise im Dunkeln. Wir waren immer noch wach, und er erzählte uns Geschichten, die ich überhaupt nichtverstand, doch seine warme Stimme füllte das kleine Zimmer und zog mich in ihren Bann.
    Manchmal sprang er in seinem Bett auf und stellte die Helden dar, von denen er erzählte, doch wirsahen nur seine weiße Unterwäsche hin- und herspringen.
    Er sprach nie Arabisch, sondern immer nur Aramäisch, die Sprache seines Dorfes Malula. Meine Eltern und älteren Brüder konnten Aramäisch gut sprechen.
    Ich dagegen bin in Damaskus aufgewachsen und lernte erst später die Sprache meiner Eltern.
    Damals also, als er uns besuchte, sprach ich ihn immer wieder auf arabisch an. Er antwortete mir nicht, sondern zog verstimmt seine buschigen Augenbrauen zusammen und meckerte meinen Vater an. Ich verstand kein Wort, aber ich wußte, daß er ihm meinetwegen nicht gerade Komplimente machte. Heute denke ich, daß er mich wegen meiner Unkenntnis seiner geliebten Sprache weniger gemocht hat.
    Man sagt, die Damaszener bekommen im Monat August die meisten Alpträume. Wen soll es auch wundern bei dieser Bruthitze? Eines Nachts, im August 1961, fast zwei Wochen nach Großvaters Tod, erschien er mir im Traum:
    »Vierhundert Jahre lang kämpfte ich hier, mein Junge«, sprach er zu mir auf arabisch. »Vierhundert Sommer habe ich es hier unter der sengenden Sonne ausgehalten, damit die Kinder unten auf demDorfplatz in Ruhe spielen können. Schau dir meine Flinte an. Sie ist meine einäugige und treue Geliebte. Ich pflege und streichele sie, und sie läßt mich nie im Stich, auch dann nicht, wenn der König wiederkommt, um Takla zu holen.« Mein Großvater saß schwitzend in seinem Fell auf einem hohen Felsen über dem Dorf. Sein Blick streifte wie ein Adler über die Häuser am Fuße der Felsen und die Terrassenfelder in der Ferne.
    »Großvater, zieh das Fell aus. Es ist heiß!« sagte ich aus Mitleid, aber der Alte lachte. »Was Kälte wehrt, taugt auch gegen die Hitze. Aber meine Flinte …«
    »Ach, Opa«, unterbrach ich ihn. »Was soll das mit der alten Knarre. Sie trifft nicht einmal einen Elefanten auf einen Meter Entfernung. Nimm dir doch eine Kalaschnikow. Sie ist viel besser.« Das fand er aber gar nicht lustig. »Rede nicht schlecht von meiner einäugigen Geliebten«, schrie er mich an. »Sie kann einen Adler im siebten Himmel treffen«, fügte er hinzu, zielte mit der Flinte nach oben und drückte ab. Es krachte furchtbar, und ich fuhr erschrocken im Bett auf. Draußen dämmerte der Morgen. Ich war hellwach. Eine Weile blieb ich im Bett liegen und hörte durch das offene Fenster den Nachbarn Elias im Erdgeschoß schnarchen. Der Verkehrspolizist wurde oft wegen seiner Sägekonzerte gehänselt. Er aber antwortete jedesmal unerschrocken: »Das bin nicht

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