Märchensommer (German Edition)
getrunken. Mit der Leidenschaft, die sich den ganzen Tag schon in mir aufgebaut hatte, verfiel ich Julian voll und ganz und ließ zu, dass er mich vor all den Leuten hier küsste.
Ganz in der Nähe klirrte plötzlich ein Glas und ein verhaltenes Fluchen folgte. Ich grinste unter Julians Lippen. „Ich fresse einen Besen, wenn meine Mutter nicht gerade ihren Drink hat fallen lassen.“
Er schmunzelte und zog mich hoch. „Sie hat wohl einen Hang zur Dramatik.“
„Du hast einen interessanten Moment gewählt, um uns zu outen. Sie wird total ausflippen.“
„Nein, wird sie nicht. Zumindest nicht heute Abend.“
„Warum? Was ist an diesem Abend denn so besonders?“
Noch bevor Julian antworten konnte, stimmten Albert und seine Freunde einen neuen Song an. Das Lied war auf der ganzen Welt bekannt. Ich drehte mich überrascht zu der Dreimannband um.
„Hast du heute etwa Geburtstag?“, fragte ich Julian.
Er schwieg. Seine Finger schlossen sich fest um meine Hand, und so zog er mich zu einem der langen Tische, an dem bereits einige Leute Platz genommen hatten. Alle sangen sie das Geburtstagslied. Valentine und Henri rutschten etwas zusammen, sodass Julian und ich uns neben sie setzen konnten. Marie drängte in der Zwischenzeit meine Mutter dazu, am Kopfende des Tisches Platz zu nehmen. Dann eilte sie schnell zu der Theke neben der Tanzfläche und holte den Kuchen, den sie vorhin mit hierher genommen hatte. Nur jetzt war kein Plastikdeckel mehr darüber gestülpt. Stattdessen brannten unzählige Kerzen, die in dem Kuchen steckten. Sie stellte ihn vor meine Mutter.
Fuck.
Mir drehte sich der Magen um. Das konnte doch nur ein übler Scherz sein. „Was hast du dir dabei gedacht?!“, fauchte ich Julian an. „Mich auf Charlenes Geburtstagsfeier zu schleppen … Sag mal, geht’s noch?“
„Hey, komm runter.“ Unterm Tisch legte er mir seine Hand auf den Oberschenkel. Er wollte mich wohl beruhigen—mit seinem Voodoo-Scheiß außer Gefecht setzen. Und beinahe hätte es auch funktioniert.
Aber diesmal ließ ich mich nicht so leicht einwickeln. Energisch schob ich seine Hand von meinem Bein und funkelte ihn angewidert an. „Wieso hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“
„Es war schon schwer genug, dich überhaupt zu überreden, heute hierher zu kommen“, fauchte er zurück. „Wenn du gewusst hättest, dass die Party für deine Mutter ist, hättest du nicht einmal darüber nachgedacht, hier aufzukreuzen.“
„Verdammt richtig! Und du hättest mich nicht anlügen sollen!“ Nicht heute. Nicht nach dem wunderschönen Tag, den wir zusammen verbracht hatten. „Du bist so ein Arsch!“
Und plötzlich ergab alles einen Sinn. Julian hatte mich heute vom Haus weggelockt, damit ich von den Vorbereitungen nichts mitbekam und keine Nachforschungen anstellen konnte. Ich hatte ihn ja sogar belauscht, wie er Marie verboten hatte, mit mir darüber zu reden. Das war es also. Was für ein Verräter!
Als das Lied zu Ende ging, klatschten alle laut in die Hände und jubelten für Charlene. Ich verschränkte als Einzige die Arme vor der Brust und war still.
Marie forderte meine Mutter auf, die Kerzen auszublasen und sich etwas zu wünschen. Charlenes hoffnungsvoller Blick schweifte dabei zu mir. Es war klar, was sie sich gleich wünschen würde.
Obwohl ihr perfektes Make-up eine Schönheit in ihr hervorrief, die ich schon lange vergessen hatte, so lag der Beweis für ihre Krankheit doch gleich darunter. Ihre Augen waren tief in die Höhlen zurückgetreten und ihre eingefallenen Wangen erinnerten mich an eine hungernde Frau. Heute Nacht schien sie jedoch nach etwas anderem als Essen zu hungern. Mir wurde bewusst, was für eine machtvolle Waffe ich gegen sie in den Händen hielt. Es war beinahe so, als könnte ich Gott spielen und darüber entscheiden, ob diese Frau glücklich war oder unglaubliche seelische Schmerzen erdulden musste.
Ich hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war—ob ich vielleicht einfach schon zu lange in Maries gefühlsduseliger Nähe gewesen war oder ob Julian etwas damit zu tun hatte—doch in diesem Moment wollte ich diese Macht nicht haben. Weder über meine Mutter noch über Marie oder sonst jemanden, der versuchte, mir näherzukommen. Alles, was ich wollte, war in Frieden gelassen zu werden. Zum ersten Mal nach so langer Zeit wünschte ich meiner Mutter nichts Böses. Aber ich war auch meilenweit davon entfernt, ihr zu geben, was sie wollte.
„Ich würde keinen Wunsch damit
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