Märchensommer (German Edition)
Marie und Albert wechselten sich dabei ab, mich mit Fragen zu bombardieren. „Geht es dir gut? Ist mit deiner Hand alles in Ordnung? Was hat der Doktor gesagt?“
Es war rührend, wie sie sich um mich sorgten. Meine Mutter stand neben ihrer Schwester. Sie wagte es nicht, mich anzufassen, wie Marie es tat, doch ihre angsterfüllten Augen fesselten mich über einen Meter Entfernung.
Eine verschwommene Erinnerung stieg in mir hoch. Sie kam heute Abend mit Julian in die Küche, nachdem sie den ganzen Tag weg gewesen waren. Sie hatte selbst einen Arzt aufsuchen müssen. Es fühlte sich seltsam an, wie ich ihr geradewegs ins Gesicht sehen konnte und ausnahmsweise mal nicht diesen unbändigen Zorn in mir spürte.
Der Friedhof.
Das Bild von ihrem Namen, der in den weißen Marmorstein geschlagen war, tanzte vor meinem inneren Auge und gab mir einen Stich ins Herz. Ich schob diesen unangenehmen Gedanken beiseite und konzentrierte mich stattdessen wieder auf ihre eingesunkenen Augen. Sie sah echt Scheiße aus und sollte gar nicht auf sein. Doch genau wie mein Onkel und meine Tante war auch sie wachgeblieben und hatte auf unsere Rückkehr gewartet. Auf eigenartige Weise war ich ihr dafür dankbar.
„Es geht mir gut“, sagte ich, bevor ich mich von ihr wegdrehte. „Aber so wie’s aussieht, bin ich wohl ohnmächtig geworden. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne ins Bett gehen. Julian kann euch die Einzelheiten erzählen.“
Alle machten Platz, damit ich ungehindert nach oben gehen konnte. Julians Worte folgten mir die Treppe hinauf. Obwohl ich die Geschehnisse nun schon zum zweiten Mal hörte, fühlte es sich immer noch an, als würde er die Geschichte von jemand ganz anderem erzählen, nur nicht meine.
Ich saß auf der Schwelle meiner offenen Balkontür. Die Decke, die ich um meine Schultern gewickelt hatte, hielt mich dabei warm. Als ich das letzte Mal auf die Uhr gesehen hatte, war es Viertel nach elf. Das Gefühl, dass ich einen, wenn auch noch so kleinen Teil meiner Erinnerung verloren hatte, nagte an mir, und ich wartete angespannt darauf, dass Julian endlich nach oben kam und ich mit ihm reden konnte. Doch außer meinen schweren Atemzügen war hier oben nichts zu hören. Stundenlang saß ich hier schon allein.
Meine Hand begann unter dem Verband zu jucken. Da ich immer noch keinen Schmerz verspürte, spielte ich mit dem Gedanken, die Anweisung des Doktors zu ignorieren und die Mullbinde einfach abzunehmen. Doch ich war noch nie ein großer Fan von Blut oder offenen Wunden gewesen, also benahm ich mich artig und beschloss stattdessen nachzusehen, wo Julian so lange steckte.
Mein Steißbein tat schon weh vom langen Sitzen auf dem harten Fußboden. Ich rieb mir den Hintern und zog mir dann die Decke von den Schultern. Leise schlich ich aus meinem Zimmer, hinaus in den Flur, der nur durch den Mondschein, der durch das Fenster im Dach hereinbrach, ausgeleuchtet wurde. Von unten her hörte man nicht das leiseste Geräusch. Sie waren wohl alle schon zu Bett gegangen. Warum war dann Julian noch nicht nach oben gekommen?
Auf Zehenspitzen tapste ich die Treppe hinunter und fühlte dabei meinen Weg mit einer Hand an der Wand. Erst blickte ich ins Wohnzimmer, doch da drin war es stockdunkel. Die Tür zu Alberts Studierzimmer war verschlossen und durch den Spalt darunter schien auch kein Licht. Ich war also ganz umsonst runter gekommen.
Dann hörte ich plötzlich Julians Stimme. Ich schoss herum, wobei mir mein Herz vor Schreck fast in die Hose rutschte, und stand vor einer verschlossenen Tür. Natürlich! Ich schlug mir auf die Stirn. Wo sonst sollte Julian sein, wenn nicht bei meiner Mutter?
Ich schlich leise näher und drückte mich dann mit dem Rücken gegen die Wand. Ich atmete ganz langsam, um alles verstehen zu können, was die beiden sagten. Wenn sie über mein Missgeschick von heute Nachmittag sprachen, war es schließlich mein Recht, ihnen zuzuhören.
Und dann bestand ja auch noch eine klitzekleine Chance, dass Julian mehr über sein Geheimnis verraten würde. Seine gruseligen Fähigkeiten. Ich hatte vielleicht einen Teil des heutigen Tages vergessen, doch unser Gespräch von gestern war mir in allen Details im Gedächtnis geblieben. Er würde nicht so einfach mit einem ‚Da ist nichts, worüber wir reden müssen‘ davonkommen.
„Ich hatte keine Wahl“, hörte ich ihn nun durch die Tür. Er klang irgendwie zornig, aber so, als wäre seine Wut gegen ihn selbst gerichtet.
„Du
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