Märchensommer (German Edition)
kennen ihn. Und Julian ist mein Name. Oder zumindest ist er es, wenn ich mich auf der Erde herumtreibe. Mein Engelsname ist wohl eher ein Zungenbrecher für die menschliche Sprache.“
Ich zog die Brauen tiefer in die Augen. „Wie das?“
Er rieb sich nachdenklich den Nacken. Dann kurvten seine Mundwinkel nach oben und seine Augen begannen amüsiert zu leuchten. „Komm her.“ Doch er gab mir gar keine Gelegenheit, näher zu rutschen, sondern kniete sich aufgeregt vor mich und legte mir seine Hände auf die Schläfen.
Ein unsicheres Lachen entfuhr mir. „Was machst du—“ Schlagartig wurde ich still. In meinem Kopf begann ein Chor zu singen. Nur sangen die Stimmen keine Worte. Stattdessen summten sie verschiedene Töne, die alle einen Akkord ergaben, der so schön klang wie festliches Glockenläuten zu Weihnachten.
„Jetzt verstehe ich, was du mit Zungenbrecher meinst“, murmelte ich.
„Gut. Dann verstehst du auch, warum es so schwer ist, meinen Namen hier unten auszusprechen. Und was mein Alter angeht … rate!“ Er grinste bis über beide Ohren. Offenbar machte es ihm richtig Freude, mir von sich und seiner Heimat zu erzählen.
„Vor ein paar Tagen hast du gesagt, du wärst einundzwanzig.“
„Nein. Das hast du gesagt. Ich habe es weder bestätigt noch verneint. Erinnerst du dich?“
Ich erinnerte mich tatsächlich. Als er gemeint hatte „gut geraten“, hatte ich automatisch angenommen, ich würde richtig liegen. Oh, dieser ausgefuchste Teufel! Oder Engel … Ah, was auch immer.
„Na schön. Alterst du in Menschenjahren?“
„Nicht wirklich. Aber ich kann es für dich umrechnen. Also, was schätzt du?“
Ein wenig ratlos kratzte ich mich am Kopf. „Du sieht wirklich wie Anfang zwanzig aus.“
Julian verzog den Mund auf eine Seite und grummelte dabei entrüstet. „Du kommst noch nicht mal in die Nähe, Herzchen.“
„Also gut. Dann bist du vielleicht … dreißig?“ Aber selbst ich konnte sehen, dass er noch viel zu jung dafür war.
Er richtete seinen gelangweilten Blick nach oben. „Um genau zu sein, bin ich fünfundsechzig.“
„Heilige Scheiße, was ist dein Geheimnis? Fünfundsechzig Jahre alt und kein einziges graues Haar an dir!“ In übertriebener Überraschung schlug ich beide Hände auf mein Herz. Doch eigentlich kippte ich beinahe aus den Latschen, so erstaunt war ich wirklich.
Mit Schalk in den Augen lehnte sich Julian nach vorn und flüsterte mir ins Ohr: „Wir reden hier über fünfundsechzig Jahrtausende .“
Jetzt blieb mir endgültig die Luft weg. „Du willst mich wohl verscheißern.“
„Kein Scheiß.“ Julian hob seine rechte Hand wie vorhin, als er versprochen hatte, nicht mit meinem Gedanken zu spielen, und machte dabei ein ernsthaftes Gesicht. Im nächsten Moment zerzauste er mein Haar. „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Im Vergleich zu meiner letztendlichen Existenz, waren die letzten sechzigtausend Jahre wie ein Wimpernschlag. Und du darfst auch nicht vergessen, dass ich nur einen Bruchteil dieser Zeit in einem menschlichen Körper auf der Erde verbracht habe.“
Okay, vergiss, was er gerade gesagt hat. Zu versuchen das Ganze zu begreifen, würde mir nur Kopfschmerzen bereiten, sonst nichts. Aber jetzt mal ehrlich, fünfundsechzigtausend Jahre? In der Zeit musste er einer ganzen Menge Menschen begegnet sein.
Einer ganzen Menge Mädchen . Ich konnte nichts gegen die Welle der Eifersucht tun, die bei diesem Gedanken über mich schwappte. „In dieser ganzen Zeit … wie viele Freundinnen hattest du da schon?“
Julian sah mich lange an, ohne dass seine Miene verriet, was er gerade dachte. Nach einer halben Minute begann ich mich wirklich unwohl dabei zu fühlen. Doch schließlich sagte er: „Als Engel trägst du die Liebe für jeden Menschen und jedes Ding in dir. Aber es ist anders, als du Liebe empfindest. Wir sind gerne in der Gesellschaft unserer eigenen Art und auch in der der Menschen. Wir beobachten euch: wenn ihr geboren werdet, wenn ihr heranwachst, wie ihr euer Leben gestaltet. Und in all dieser Zeit lieben wir euch. Aber ein Engel verspürt normalerweise nie den Drang, mit einem bestimmten Menschen zusammen zu sein. Auch nicht mit einem bestimmten anderen Engel. Ich habe so etwas noch nie verspürt … bis ich dich getroffen habe.“
Julian seufzte und streichelte mir dabei mit dem Daumen über die Wange. „Es ist, als würdest du mich mit jedem Wort, das du sagst, oder mit allem, was du tust, weiter und weiter an dich
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