Märchensommer (German Edition)
heranziehen. Und ich kann nicht umkehren. Jeder Funken deines Geistes fasziniert mich wie noch nie etwas zuvor. Wenn du in meiner Nähe bist, verliere ich die Kontrolle über meinen eigenen Willen. Ich möchte dich ständig berühren. Dein Haar. Deine Haut.“ Er lachte leise. „Dein rebellisches Herz.“
„Warum?“, flüsterte ich.
„Ich weiß es nicht. Es ist einfach so.“
Das war schwer zu glauben. Immerhin war ich nichts weiter als ein schwieriger Teenager, der wahrscheinlich mehr Zeit auf der Flucht vor der Polizei als in einem Klassenzimmer verbracht hatte.
Mehrere Minuten saß ich nur schweigend da und versuchte zu verstehen, was Julian in mir sah. Und dann überlegte ich mir, was ich in ihm sah. Ich wünschte mir, ich hätte ihm in denselben beschwingten Worten sagen können, was er für mich war und wie viel er mir bedeutete. Im Vergleich zu seinem war mein Leben zwar noch nicht besonders lang, doch ich hatte das Gefühl, dass ich immer schon diesen kleinen, ganz exklusiven Platz in meinem Herzen nur für ihn aufgespart hatte.
Traurigerweise blieben meine Lippen verschlossen. Ich schaffte es einfach nicht, Julian mit derselben Offenheit zu begegnen wie er mir. Mir blieb nur zu hoffen, dass er erahnte, woran ich gerade scheiterte.
Eine weitere Minute verstrich, in der er meinen Arm sanft auf und ab kraulte und dann seine Finger durch mein Haar strich. Als die Gelegenheit, ihm zu sagen, was ich fühlte, schließlich endgültig verstrichen war, griff ich ein anderes Thema auf, um von der seltsamen Beklommenheit zwischen uns abzulenken. „Kannst du eigentlich fliegen? Und wenn du ein richtiger Engel bist, wo sind dann deine Flügel?“
„Ich bin ganz sicher ein richtiger Engel. Und natürlich kann ich fliegen.“
„Dann hast du also Flügel? Wo versteckst du sie? Die kann man doch sicher nicht einfach abnehmen und in die Hosentasche stecken, oder?“
„Tz—“, machte er und verdrehte dabei die Augen. Er sah so süß aus, wenn er die Geduld mit mir verlor. „Wo nimmst du nur immer diese Ideen her? Natürlich kann ich sie nicht einfach abnehmen. Aber ich kann sie verschwinden lassen.“
„Wie?“
„Wie erkläre ich dir das am besten?“ Er kratzte sich am Kinn und spitzte dabei die Lippen. „Auf gewisse Weise kann ich die Moleküle einer Gestalt beeinflussen. Sie verlangsamen oder auch beschleunigen. Meine Flügel sind zwar immer hier, aber du kannst sie nicht wahrnehmen.“
In Physik war ich immer schon eine Niete. Daher machte auch seine Erklärung wenig Sinn für mich. „Hört sich an, als könntest du die Zeit manipulieren. Irgendwie. Richtig? Kannst du denn auch durch die Zeit reisen?“
Julians linker Mundwinkel schob sich nach oben. „Sagen wir’s mal so: Ich kann die Zeit zu meinem Vorteil biegen. Niemand kann in einen früheren Zeitpunkt der Geschichte springen, aber durch enorme Konzentration kann ich die Geschwindigkeit sämtlicher Moleküle um mich herum reduzieren. Auf diese Weise kann ich länger in einem bestimmten Moment verharren.“
Ich machte ungläubige Augen. Das klang schon sehr fantastisch. Aber dann sollte ich wohl auch bedenken, mit wem ich es hier zu tun hatte.
Julian schmunzelte. „Ich zeig’s dir.“ Er hielt seine Hand hoch und streckte dabei seinen Zeigefinger aus. Von dem Apfelbaum in unserer Nähe startete im nächsten Moment ein kleiner Spatz und segelte genau auf uns zu. Er war ungefähr noch einen Meter von Julians Hand entfernt, da wurde er plötzlich um ein Vielfaches langsamer. Jeder formvollendete Flügelschlag dauerte nun mehrere Sekunden. Und er kam noch besser.
Seine kleinen Krallen spreizten sich weit, bevor sie sich um Julians Finger wickelten, ganz langsam, so wie eine Blume, die abends ihre Blüten zusammenfaltete. Das Ganze dauerte nun schon über zwei Minuten.
Ich richtete mich auf und kniete mich vor den Vogel, wobei ich ihn von allen Seiten betrachtete. „Ist ja abgefahren.“
Ein Lidschlag des Vogels dauerte etwa zwanzig Sekunden. Dann breitete er ebenso langsam seine Flügel wieder aus und hob von Julians Finger ab.
Meine Neugier fraß mich beinahe auf. „Wie langsam kannst du werden?“
Grinsend deutete Julian nur mit seinen Augen zu dem Spatz, der in diesem Moment reglos in der Luft verharrte. Mir kam es vor, als würde die Welt stillstehen und Julian und ich wären die einzigen, die sich darauf bewegten.
„Und wie lange kannst du diesen Zustand aufrechterhalten?“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Bis
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