Märchensommer (German Edition)
Handgelenken und nahm dann meine Hände in seine. „Es wäre nur für diesen einen Moment.“
Ich sah nach unten auf unsere verschränkten Finger. Ein Augenblick, in dem die Welt stillstand. Tief in mir wusste ich, dass er Recht hatte. Ich hatte es die ganze Zeit gewusst. Seit ich gehört hatte, wie meine Mutter ihm vorgeworfen hatte, er könnte unmöglich hierbleiben. Irgendwann würde er verschwinden. Zusammen mit ihr. Und sie würden mich beide hier zurücklassen. Allein.
„Wie konnte ich das nur vergessen?“, murmelte ich. Mein Blick kehrte zu seinen traurigen Augen zurück. „Du musst gehen, nicht wahr? Zurück in den Himmel.“ Sein zögerliches Nicken traf mich tief in meinem Herzen. „Wie lange habe ich dich denn noch?“ Bereits in dem Moment, in dem ich die Frage krächzte, wusste ich, dass er mir nicht antworten würde. Und es war auch nicht nötig, denn ich kannte die Antwort bereits. Vergebung war die Grundlage für den Pakt meiner Mutter mit Gott. Meine Vergebung.
Heute Morgen hatte ich meiner Vergangenheit den Rücken gekehrt und meine Mutter in mein Herz gelassen. Sie hatte bekommen, was sie wollte. Der Pakt war erfüllt.
„Du hast gesagt, sie würde heute noch nicht sterben. Aber das wird sie schon sehr bald, nicht wahr?“ Ein kleiner Teil in mir klammerte sich an die wilde Hoffnung, Julian würde seinen Kopf schütteln. Aber er blickte mich einfach weiter an. Und das war seine Antwort.
Ich fuhr mir rastlos mit den Händen durchs Haar, schniefte und blickte ziellos um mich. „Ich habe meine Mutter erst heut wieder zurückbekommen. Und jetzt verliere ich euch beide?“
„Jona—“ Seine Stimme trug den ganzen Schmerz, den ich versuchte, zusammen mit meinen Tränen tief in mir zu vergraben. Julian streckte seine Hand zu mir nach oben und legte sie sacht auf meine Wange.
Ich kniff meine Augen zu und lehnte mich in seine Berührung. „Du bist doch ein Engel. Du kannst sie heilen. Mach, dass es ihr wieder besser geht. Ich weiß, dass du dazu im Stande bist. Ich hab’s gesehen.“
Julian zog mich wieder zu sich runter und ich legte meinen Kopf auf seine Brust. Sein Herz pochte langsam, aber laut. „Ich bin kein Heiler, Jona. Von heute an sind meine Kräfte gebunden. Ich kann ihr nicht mehr helfen. Das Einzige, was ich jetzt noch für sie tun kann, ist das Leid für sie erträglicher zu machen, während sie immer schwächer wird.“ Er streichelte mir sanft über mein Haar. „Sie ist eine Abmachung eingegangen. Und nun müssen sich alle an die Regeln halten.“
„Scheiß auf deine dämlichen Regeln!“ Ich umklammerte ihn und drückte mich mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, an ihn. Meine Finger gruben sich dabei tief in sein Fleisch. „Eure Abmachung interessiert mich nicht. Ich will, dass du hierbleibst.“
Lange Zeit war Julian still. Als er endlich etwas sagte, war es nicht mehr als ein leises Flüstern in meinem Kopf. „Gestern hast du gesagt, du würdest mit mir von den Wolken springen. Hast du das ernst gemeint?“
Ich verstand nicht ganz, was er damit meinte, also wischte ich mir die Schniefnase mit dem Handrücken ab und hob meinen Kopf, um ihn anzusehen. „Wann hab ich denn das gesagt?“
Julians Augen ließen von meinen ab und er betrachtete stattdessen den Himmel. „Kurz bevor ich deine Erinnerung gelöscht habe.“
Was sagte er da? Er ließ mich vergessen? Eine Schlinge aus Stacheldraht zog sich fest um mein Herz. „Du hast an meinen Gedanken herumgeschraubt?“
„Das musste ich tun. Du warst so nahe dran, hinter meine wahre Identität zu kommen.“ Julian drückte seine Handfläche auf meine Stirn und im nächsten Moment lüftete sich der Schleier, der sich die letzten vierundzwanzig Stunden über meine Erinnerung gelegt hatte. Alle Ereignisse des gestrigen Abends kehrten mit solcher Klarheit zurück, dass mir für einen Moment die Luft wegblieb.
Was hatte er sich nur dabei gedacht?! Entsetzt starrte ich ihm in die Augen. Darin spiegelte sich meine eigene Schwermut. Er litt genauso sehr wie ich. Und deshalb konnte ich ihm auch nicht böse sein.
Außerdem hatte er gestern riskiert, vor meiner ganzen Familie enttarnt zu werden, nur weil er meine Hand geheilt hatte. Sein gepeinigter Blick, als er mich anflehte, ihn nicht zu zwingen, sein Geheimnis preiszugeben, erschien mir wieder glasklar vor Augen. Mit dir würde ich auch von da oben springen. Das waren meine eigenen Worte gewesen.
Es brauchte nicht mehr als eine Sekunde, um all diese kleinen
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