Märchensommer (German Edition)
ein kleines Kind gefressen haben; die Schnürsenkel hingen ihm immer noch aus dem Maul.
Wie angewurzelt blieb ich stehen. Das Riesenvieh stellte sich vor mich und schnitt mir damit den Weg zum Eingang ab. Ich war ihm hilflos ausgeliefert.
Da hob das Monstrum von Hund seine Schnauze und schnüffelte an meiner zitternden Hand. Aus Angst seinen Appetit nur noch mehr anzuregen, erstickte ich ein Wimmern in meinem Hals.
Er blickte zu mir hoch. Ein tiefes Grummeln in seiner Kehle wuchs zu dem trägsten und desinteressiertesten Einmal-Bellen, das die Welt je zu hören bekam. Dabei lösten sich die Schnürsenkel von seinem Kiefer und tropften in einer Sabberpfütze zu Boden.
Bei Julians Lachen hinter mir fuhr ich erschrocken zusammen. „Und ich hab schon gedacht, der Hund ist stumm“, sagte er.
Verdammt, wieso musste der Kerl ständig irgendwo in der Nähe sein? Ihm blieb aber auch gar nichts verborgen, besonders nicht meine peinlichen Momente.
„Lou-Lou, sitz!“, befahl er dem Bernhardiner. Gemächlich pflanzte sie ihren Hintern aufs Pflaster. Ihre lange rosa Zunge hing seitlich aus dem Maul und wippte durch ihr Hecheln auf und ab. Ihr Schwanz wischte auf der Terrasse hin und her, während Julian sie hinter den wolligen Ohren kraulte. Dann wagte es Julian auch noch, seinen Arm locker auf meine Schultern zu legen. „Sollen wir Hunde auch auf die Liste der Dinge setzen, die dich zu Tode erschrecken?“
Ha. Ha. „Scherzkeks.“ Ich forderte ihn mit einem todbringenden Blick heraus, weiter Witze über mich zu machen, als er mich in Richtung Eingangstür zog. Bevor wir diese erreichten, konnte ich mich schließlich aus seiner lässigen Umarmung befreien und stapfte allein hinein.
Julian folgte mir, bog aber gleich in ein Zimmer auf der linken Seite. Hatte der etwa kein Zuhause? Hoffentlich würde er bald abhauen und mich mit seinen spitzen Bemerkungen in Ruhe lassen. Die saudummen Schmetterlinge, die seine Berührungen jedes Mal in meinem Bauch heraufbeschworen, konnte er bei dieser Gelegenheit auch gleich mitnehmen.
In der Flurhalle hinter der Eingangstür standen meine neu entdeckten Familienmitglieder und unterhielten sich in fließendem Französisch. Schnell wechselten sie in meine Sprache, jedoch mit schwerem Baguette-und-Croissant-Akzent, als sie mich hereinkommen sahen, und hießen mich mit einem freundlichen Lächeln in ihrem Haus willkommen.
Der Drache versuchte auch zu lächeln, doch irgendwie wollten ihre Mundwinkel nicht so recht nach oben wandern. „Die lange Reise hat mich doch etwas angestrengt. Ich werde mich lieber kurz ausruhen. Marie zeigt dir gleich alles, dann kannst du dich wie zu Hause fühlen.“
Zu Hause. Pah, dass ich nicht lache. Und wann würde es das Miststück endlich lernen, mich nicht mehr anzusprechen? Ich knirschte mit den Zähnen und wartete bis sie in dem Raum am hinteren Ende des Flurs verschwunden war.
„Ich möchte nur sichergehen, dass es deiner Mutter auch gut geht, dann können wir eine Tour durch das Haus starten, wenn du möchtest“, bot mir meine Tante an. Ihre Augen strahlten immer noch mit derselben Begeisterung und Gastfreundschaft wie vor eineinhalb Stunden am Flughafen.
Als sie weg war und ich plötzlich allein dastand, drehte ich mich erst mal im Kreis und bewunderte das lichtdurchflutete Innere des riesigen Hauses. In dem ovalen Flur, der selbst schon wie ein großes Zimmer wirkte, standen ein dunkelgrüner Kasten im Landhausstil und eine Kommode, auf der eine blau-weiß gemusterte Vase und ein Festnetztelefon standen. Helle Holztüren führten in alle Richtungen. Ich lehnte mich etwas zur Seite und spähte durch eine offene Tür in einen Raum, der aussah wie ein kleines Büro. Bücher über Bücher füllten die Regale an der Wand und am hinteren Ende stand ein breiter Schreibtisch mit einem Computer oben auf.
Auf der rechten Seite des Flurs führte eine breite, geschwungene Treppe in den oberen Teil des Hauses. Erst als ich mir beinahe den Nacken verrenkte und nach oben sah, erkannte ich, warum es in dem Flur ohne Fenster trotzdem so hell war. Von hier aus konnte man bis zum Dach hinaufsehen, das in einer Mansarde über der Galerie im ersten Stock aufragte. Ein riesiges Dachfenster war darin eingebettet und gab freie Sicht auf den strahlendblauen Himmel.
„Das Haus ist wohl etwas größer als dein Zimmer in London.“
Ich schoss zu Julian herum. Er lehnte mit einer Schulter im Türrahmen und hatte die Daumen durch die Gürtelschlaufen seiner Jeans
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