Märchensommer (German Edition)
gehakt. Ich streckte meine Schultern arrogant nach hinten und setzte mein perfektes Mädchengrinsen auf. „Du bist noch hier? Solltest du nicht schon lange unterwegs zu deiner eigenen Familie sein? Oder will dich dort vielleicht auch keiner haben?“ Die Spitzen in meiner Stimme schienen ihn nicht einmal zu berühren.
„Aber nein, Julian lebt bei uns“, hörte ich plötzlich meine Tante sagen, die gerade zurück aus dem Zimmer meiner Mutter gekommen war. „Komm mit mir. Ich zeige dir als Erstes die Küche und mache deiner Mutter nur noch schnell eine Tasse Tee.“ Sie nahm mich an der Hand und zog mich in den Raum, in dessen Tür Julian stand.
Als ich mich an ihm vorbeizwängte, verfing ich mich in Julians amüsiertem Lächeln. Mein Entsetzen darüber, dass er ebenfalls in diesem Haus lebte, stand mir mit Sicherheit ins Gesicht geschrieben und schien ihn nur noch mehr zu erheitern.
6. Cinderella
IN DER GERÄUMIGEN Küche mit vanillefarbigen Fronten hing der Duft von frisch gebackenem Brot in der Luft. An dem großen Eichentisch auf der linken Seite neben der Tür konnten acht Personen Platz nehmen, doch mit mir als einziger dort wirkte er ein wenig wie der verlassene Laufsteg nach einer Modenschau.
Die Kochinsel in der Mitte des Raumes spiegelte sich in der Tür des Edelstahlkühlschranks, in dem Marie gerade herumwühlte. Hoffentlich hatte sie eine Landkarte für das riesige Teil, denn ich befürchtete schon, sie würde darin verloren gehen.
„Ah, da ist es ja.“ Sie kam mit etwas, das in Wachspapier eingepackt war, wieder zum Vorschein und holte einen Teller aus einem der oberen Küchenschränke, auf den sie dann das Gebäck legte. Zwanzig Sekunden ließ Marie den Snack in der Mikrowelle kreisen, ehe sie den Teller vor meinen verschränkten Armen hinstellte.
Mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt, setzte sich Marie neben mich. „Iss, Chérie . Du bist doch sicher hungrig.“
„Nein, überhaupt nicht“, murmelte ich, doch im selben Moment gab mein Magen ein verräterisches Knurren von sich.
Maries glockengleiches Lachen tanzte im Raum. „Du gehörst zur Familie, Jona, und bist uns herzlich willkommen. Du brauchst dich also nicht zu genieren. Wenn du irgendetwas möchtest, nimm es dir bitte.“ An dem freudigen Glanz in ihren Augen war zu erkennen, dass sie jedes Wort ernst meinte.
Aber warum gerade jetzt? Was trieb diese Frau dazu, heute die liebe Tante zu spielen, wenn sie sich die letzten siebzehn Jahre nicht den geringsten Dreck um mich geschert hatte? Für mich war sie eine Fremde. Niemals war sie zu Besuch in unsere kleine Wohnung in Cambridge gekommen, als ich noch bei meiner Mutter gelebt hatte. Und Charlene hatte eine Tante auch nie nur erwähnt. Ich wusste rein gar nichts über Marie und fragte mich, wie viel mehr sie denn wirklich über mich wusste.
Mein Magen knurrte erneut. Verlegen stemmte ich meine Faust in meinen Bauch in der Hoffnung, das Grummeln würde dadurch aufhören. Meine Tante lächelte mich auffordernd an. Es kratzte mich nicht. Aber es wäre doch eine Schande gewesen, das köstliche Brötchen wegzuwerfen, jetzt wo sie es schon einmal aufgewärmt hatte. Ich stibitzte das Gebäck vom Teller und knabberte an einer Ecke. Der würzige Geschmack der Kräuter-und-Frischkäsefüllung explodierte in meinem Mund. Mmh, fantastisch. Ich leckte mir die Krümel von den Lippen und biss ein größeres Stück ab.
Marie nickte zufrieden. Als der Wasserkocher, der auf der Marmorplatte der Küche stand, pfiff, legte sie mir ihre weiche Hand auf die Wange. Nur ganz flüchtig. Es war vorüber und meine Tante war aufgestanden, noch ehe ich überhaupt realisierte, dass ich mich gerade von ihr hatte streicheln lassen.
Sie tauchte einen Teebeutel ein paar Mal in eine Tasse voll dampfendem Wasser. „Ich bringe deiner Mutter nur schnell ihren Tee. Dann können wir mit der Tour beginnen.“
Irgendwie fand ich ihren Akzent ja ganz niedlich. Ich nickte und biss inzwischen noch einmal von dem leckeren Gebäck ab. Zwei Minuten später war der Snack ratzeputz aufgegessen und ich saß immer noch allein in der Küche. Aus zwei Minuten wurden fünf. Wo steckte sie bloß? Das Zimmer meiner Mutter lag doch nur ein paar Meter weiter.
Um mich abzulenken, zog ich eine Weile die geometrischen Figuren auf dem Tellerrand mit meinem Finger nach und kaute dabei auf meiner Unterlippe. Hatte sie mich etwa vergessen? In so kurzer Zeit? Man konnte nicht einmal Stimmen oder Schritte aus dem Flur
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