Märchensommer (German Edition)
hören. Nur das leise Tapp-Tapp-Tapp meiner eigenen Füße durchbrach die unangenehme Stille. Schließlich stand ich vom Tisch auf und spülte den Teller ab.
„Ich sehe, du machst dich bereits nützlich“, freute sich Marie hinter mir. Ich schnellte herum, und sie nahm mir das Geschirr aus der Hand, um es wieder zurück in den Schrank zu stellen. „Komm. Es ist an der Zeit, dir dein neues Zuhause zu zeigen.“ Mit ihren Händen auf meinen Schultern schob sie mich sanft zur Tür hinaus.
Eine Wand des Wohnbereichs auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs bestand rein aus Glas und eröffnete eine herrliche Aussicht auf die Bäume im Garten. Warmes Sonnenlicht brach durch das Fenster und fiel auf den schwarzen Flügel, der in dem Raum eindeutig die Vorherrschaft übernahm. Den vielen Blättern am Notenstand nach zu urteilen, war dieses glamouröse Instrument nicht nur zur Zierde hier. Im Vorbeigehen ließ ich meine Finger über die weißen Tasten streifen und spielte dabei drei unstimmige Töne hintereinander.
Neben einem offenen Kamin schwang das Pendel einer altmodischen Standuhr in einem hypnotischen Rhythmus hin und her. Er versetzte mich zurück in eine Zeit, in der nachts das Ticken einer Uhr mein einziger Trost gewesen war. Abwesend griff ich mir an den linken Ellbogen und erinnerte mich an eine längst vergessene Verletzung. Ich schob die Gedanken daran zurück in den tiefsten Kerker meiner Erinnerungen.
Nachdem ich meinen Rundgang in diesem Raum beendet hatte, zeigte mir Marie auch noch ihr Schlafzimmer und Alberts Arbeitszimmer—das kleine Büro, in das ich vorhin schon heimlich gespäht hatte. Als wir zurück in die Halle kamen, stand die Eingangstür verlockend weit offen. Eine warme Brise wehte herein und forderte mich auf, meine Chance zu nutzen und abzuhauen. Vielleicht … wenn Marie kurz mal nicht hersah … dann könnte ich zur Tür raus huschen und einen Vorsprung rausschlagen. Ich würde mich im Wald verstecken, bis es dunkel wurde, und dann zurück zum Flughafen trampen. Irgendwie ließ sich bestimmt ein Flugticket zurück nach England auftreiben.
Mit den Händen in meinen leeren Hosentaschen musste ich mir jedoch eingestehen, dass ich ohne Geld nicht sehr weit kommen würde. Ich brummte vor mich hin und versuchte mir angestrengt eine Alternative einfallen zu lassen.
„Hier ist unser Badezimmer. Du kannst es dir auch gerne ansehen, wenn du möchtest“, schlug Marie vor und stellte sich dabei ganz bewusst zwischen mich und die Eingangstür. Sie wusste offenbar genau, was mir gerade durch den Kopf ging.
Für den Moment war es wohl das Klügste, erst mal abzuwarten und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Später, wenn ich ein paar Minuten für mich selbst hatte, würde ich mir einen Plan überlegen, der mich hier rausbrachte.
Das einzige Zimmer, das ich im Erdgeschoss bisher nicht betreten hatte, war das meiner Mutter. Es war mir ganz recht. Sollte der Drache ruhig hinter verschlossener Tür in seiner Höhle bleiben. Leider ging aber gerade diese Tür auf, als Marie und ich zum vorderen Teil des Hauses und der Treppe zurückkehrten. Julian schlich leise heraus.
„Schläft sie?“, fragte ihn Marie mit leiser Stimme.
Julian nickte nur.
„Ah, der Krankenpfleger ist wohl immer im Einsatz“, schnappte ich zynisch. „Hast du sie auch gut zugedeckt und ihr einen süßen Gutenachtkuss auf die Wange gedrückt?“
Er lehnte sich plötzlich näher und flüsterte: „Ich kann das ja heute Abend mit dir machen, wenn du willst.“
Mein erstauntes Schlucken hallte durch den Flur. Ich machte einen Schritt rückwärts und sah ihn entgeistert an.
Im nächsten Moment gab ihm Marie einen Klaps auf den Arm. „Sei nett zu ihr, Julian.“ Über ihre Rüge konnte Julian nur schmunzeln. Dann drehte sich Marie zu mir. „Deine Mutter schläft sehr viel in letzter Zeit. Die lange Reise nach London hat sie zusätzlich erschöpft.“ Sie legte ihren Arm um meine Taille und schob mich sanft vorwärts. „Komm mit, Chérie . Ich bin sicher, du möchtest als Nächstes dein Zimmer sehen.“
Im oberen Stockwerk angekommen, teilte sich der Korridor nach beiden Seiten. Ich drehte mich auf der Galerie im Kreis und genoss die herrliche Sonne, die durch das Dachfenster strömte. Als ich mich dann über das Geländer lehnte, fiel mein Blick auf Julian, der gerade in Richtung Küche schlenderte. Die herabfallenden Sonnenstrahlen brachten die warmen Strähnen in seinem Haar zum Leuchten. Mein Herz klopfte ein
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