Märchensommer (German Edition)
gar nicht kennst. Aber hab keine Angst. Wir werden uns gut um dich kümmern.“
Hallo? Ich stierte sie vorwurfsvoll an. „Ich hab vor gar nichts Angst.“
In dem Moment spürte ich, wie Julian sich von hinten zu meinem linken Ohr beugte, und ein merkwürdig warmer Schauer lief mir den Rücken hinunter. „Wir beide kennen zumindest eine Sache, bei der du ins Zittern gerätst, nicht wahr?“, flüsterte er mir zu. Dann nahm er mir den Rucksack ab und lachte den ganzen Weg bis zum Kofferraum, wo er unsere Sachen verstaute.
Der fing langsam echt an, mir auf die Nerven zu gehen.
Der Rücksitz des Wagens war zum Glück breit genug, sodass Charlene, Julian und ich uns auf der Strecke nicht wie Ölsardinen aneinanderpressen mussten. Ich saß ganz rechts und blickte die ganze Zeit über aus dem Fenster, meinen Rücken Julian zugewandt, der die Barriere zwischen mir und meiner Mutter bildete. Ganze siebzig Minuten dauerte die Fahrt zu den Weinbergen, auf denen ich bis zu meinem Geburtstag Sklavenarbeit verrichten sollte.
Aber mal abgesehen von dem ganzen Jammer, der mir noch bevorstand, war Südfrankreich doch ein wunderschönes Fleckchen Erde. In London war ich von Backsteingebäuden und hektischem Verkehr umzingelt gewesen, sobald ich einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte. Hier säumten Baumalleen die einsame Straße. Romantische Seen, Wiesen und Hügel formten eine bezaubernde Landschaft. Es war fast so, als würde das Land versuchen, die gestressten Leute auf den ruhigen Boden herunterzuholen.
Unglücklicherweise warf die Gesellschaft meiner Mutter einen trüben Schatten auf diese unwirkliche Gegend. Meine Tante und mein Onkel versuchten während der Fahrt immer mal wieder ein kurzes Gespräch mit mir aufzubauen. Doch ich hatte so überhaupt keinen Bock auf Smalltalk mit Fremden.
Ein sanfter Stups in die Rippen erschreckte mich plötzlich. Als ich wild herumfuhr, nickte Julian in Richtung Fenster. „Wir sind fast da. Hier wirst du die nächsten paar Wochen“ —er hielt im Satz kurz inne und kräuselte die Lippen— „deine Ferien verbringen.“
„Du kannst die Dinge ruhig beim Namen nennen“, maulte ich zurück. „Das ist der Ort, an dem für mich die Sklaverei beginnt.“
„Es ist dein vorübergehendes Zuhause“, verbesserte er mich noch einmal.
„Oh wie nett.“ Ich fletschte meine Zähne mit einem aufgesetzten Lächeln, drehte mich weg und las, was auf dem Ortsschild stand, das wir gerade passierten.
Bienvenue à Fontvieille.
Albert steuerte den Wagen durch schmale Straßen und ein paar Gassen, bis die vielen Schaufensterzeilen schließlich einem kleinen Wald und letztlich einem steinigen Weg wichen. Wenige Minuten später hielten wir in der Auffahrt eines beeindruckenden Anwesens im Landhausstil an.
Ich stieg mit den anderen aus und staunte mir erst mal die Augen aus dem Kopf. Hübsch war die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Ort glich einem Bilderbuch.
Von einem niedrigen karamellbraunen Gartenzaun umgeben, ragte das Haus wie ein Märchenschloss aus dem Boden. Haustür, Fensterrahmen und der lange Balkon auf einer Seite im ersten Stock waren in derselben Farbe gestrichen wie der Zaun. Der Rest des Hauses war in einem strahlenden Weiß getüncht, das gerade die frühe Nachmittagssonne reflektierte.
Ich hatte keine Ahnung, was das für rote, gelbe und lila Blumen waren, um die gerade einige Schmetterlinge und Bienen herumschwirrten, doch sie hingen üppig von den rechteckigen Blumenkästen, die an allen Fensterbänken und auch am Balkon angebracht waren. Eine leichte Brise schwenkte die feinen Netzvorhänge in den offenen Fenstern hin und her wie das Kleid einer Ballerina. Ich konnte es kaum abwarten, in dieses bezaubernde Haus hineinzuspazieren.
Immer noch tief in Faszination versunken, zuckte ich nicht einmal zurück, als meine Tante plötzlich sanft meine Oberarme rieb. „Willkommen zu Hause, Jona.“
Zu Hause . Der Begriff lag wie ein leeres Versprechen in meinem Ohr.
Marie ließ mich los und zurück blieb eine kalte Stelle auf meiner Haut—ungewöhnlich für die dreißig Grad Außentemperatur, die wir hatten. Sie nahm meine Mutter am Arm und ging mit ihr ins Haus, gefolgt von Albert, der unser Gepäck hineintrug.
Ich wollte gerade auch hinter ihnen her schlurfen, als ein braun-weiß geflecktes Pferd um die Hausmauer trottete. Okay, es war kein Pferd, aber fast so groß wie eins. Das Monster kam auf mich zu und hatte dieses mordlustige Funkeln in den Augen. Es musste auch gerade
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